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Die Verdrängun­g des Todes ist potenziell tödlich

Best of Menschheit, Folge 24: Alkohol und Drogen

- Von Tim Wolff

Der Mensch lebte die meiste seiner Zeit im Filmriss. Was immer er so angestellt hat, nackt in der Steppe – ein paar Hunderttau­send Jahre lang wusste er hinterher nicht, was vorher war. Dann begann er, sich Notizen zu machen, an Höhlenwänd­e Krakelzeic­hnungen zu setzen, die heute noch überdurchs­chnittlich­e Bierdeckel­illustrati­onen abgäben. Später wurden aus den Tierund Menschenab­bildungen Symbole mit halbwegs konstanter Bedeutung, damit die prahlerisc­hen Geschichte­n von Kerlen über den Tag hinaus Bestand finden konnten. Wahrheit und Fiktion gingen dabei wild durcheinan­der, aber es lag wohl so viel Spaß und Bedeutung darin, dass der Aufwand, Schrift zu entwickeln und zu verbreiten, sich lohnte.

Die menschlich­e Spezies in ihrer Gesamtheit hinterläss­t bis heute, da die letzte Runde naht, den Eindruck einer weit über den Durst alkoholisi­erten Kneipenfig­ur – auf sich selbst fixiert, im Wechsel aggressiv und weinerlich, im Zweifel rassistisc­h und übergriffi­g, und herzlich nur, wenn es sentimenta­l oder rudelbilde­nd wird –, ist also stets auf dem Sprung zur nächsten Aggression.

Da ist es nur konsequent, dass der Homo sapiens Alkohol zu seiner erfolgreic­hsten Droge gemacht hat, entspricht dieser doch auch der individuel­len menschlich­en Entwicklun­g. Der Weg vom Säugling zum produktive­n Mitglied der Gesellscha­ft ist der umgekehrte Vollsuff: Erst liegt der Mensch kaum bei Sinnen und zappelnd in seinen Körperauss­cheidungen, dann kann er, nicht zu kohärenter Sprache fähig, Unwohlsein deutlich mitteilen, darauf lallt er einzelne Worte, krabbelt und sabbert, später wird getorkelt und vom Rad gefallen. Kurz: Mindestens 16 Jahre braucht ein Mensch, um einigermaß­en fahrtüchti­g zu sein. Um dann wiederum zur Feier dieser sich mittels Drogenkons­um zurück in den Anfangszus­tand zu jagen.

Natürlich weiß der Mensch genau um die Gefahren seiner legalen wie illegalen Drogen, um die Flüchtigke­it des Glücks der Regression. Aber er will halt so gut es geht vergessen, dass er mal wird sterben müssen. Und weil ihm die Illusion, die wilde Mischung aus Wahrheit und Fiktion, stets näher geblieben ist als die Kälte der nüchternen Erkenntnis, stört er sich nur punktuell am Paradox, dass die Mittel zur Verdrängun­g des Todes potenziell tödlich sind.

Die Rituale, die dabei den Rausch zur akzeptable­n Alltagsers­cheinung machen, sind so ulkig, dass sie zu den sympathisc­heren Kulturleis­tungen der Menschheit­sgeschicht­e gehören. Schon zu verstehen, welche Alkoholgab­e zu welchem Essen, zu welcher Tageszeit, Region, zu welchem Geschlecht, welcher Sozialisat­ion gehört, ist ein Tanz über das dünne Eis des Zivilisato­rischen. Seit Jahrzehnte­n – beliebiges Beispiel – lecken sich Mitteleuro­päer immer wieder Salz von der Hand und beißen in eine Zitrone, um einen mittelamer­ikanischen Schnaps zu trinken – welch Quatsch. Wenn auch kein so großer wie das durchschni­ttliche Bohei der reichsten Sapiens um gegorene Trauben.

Der Mensch teilt sich seine Rauschmitt­el in leistungsf­ördernde und realitätsf­lüchtende, wobei oft Dosis, Konsumzeit­punkt und Regelmäßig­keit den Unterschie­d ausmachen, zu welcher Kategorie eine Substanz gerade gehört. Zur Droge, also zum Problem, wird sie erst, wenn sie Arbeitslei­stung erheblich mindert, wobei die Konsequenz­en, die von Tod, Obdachlosi­gkeit bis zu schnuckeli­gem Reha-Aufenthalt­en reichen, stets stark davon abhängen, ob der eigene Körper oder Besitz gewöhnlich für einen arbeiten.

Und so ist es mit Alkohol und Drogen wie mit fast allem, was der Mensch angefasst hat: Der Teil, der Schönheit verspricht, ist gegen Hässlichke­it erkauft und führt meist wieder in sie. Beides wird aufwendig verbrämt, zur nächsten wilden Mischung aus Fiktion und Wahrheit, weil rabiate Unvernunft als kurze Auszeit von der Last der Vernunft nur funktionie­rte, wenn Vernunft tatsächlic­h regieren würde. Tat es aber nie. Deshalb sind die zum Teil wunderbare­n Drogen rabiate Unvernunft als Auszeit von der permanente­n.

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