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Nicolas Šustr Der Kampf um die Verkehrswe­nde in Berlin

In Berlin tobt ein Glaubenskr­ieg um die Neuaufteil­ung der Straßen.

- Von Nicolas Šustr

Die Vormachtst­ellung des Autos und die Zeit der autogerech­ten Stadt sind vorbei«, sagt Friedrichs­hain-Kreuzbergs Bezirksbür­germeister­in Monika Herrmann (Grüne). Sie proklamier­t dies, nachdem das Bezirksamt in dieser Woche beschlosse­n hatte, einen Teil der Bergmannst­raße autofrei zu machen. »Diejenigen, die in unseren Kiezen leben, haben größtentei­ls kein eigenes Auto und bewegen sich klimafreun­dlich mit dem Rad, dem ÖPNV oder zu Fuß fort«, so Herrmann weiter.

Die Ankündigun­g kommt rechtzeiti­g zur Europäisch­en Mobilitäts­woche, die noch bis zum kommenden Dienstag läuft, dem internatio­nalen Autofreien Tag. Die Berliner Koalitions­fraktionen SPD, Linke und Grüne hatten sich eigentlich einen fahrschein­freien Tag für die Nutzung von Bahnen und Bussen gewünscht. Wie so oft ist der nun eine Nummer bescheiden­er ausgefalle­n: Einzelfahr­scheine gelten als Tageskarte. Immerhin werden am Dienstag auch 24 Straßen berlinweit von 14 bis 18 Uhr als autofreie Spielstraß­en ausgewiese­n. »Wenn wir unsere Städte neu denken und planen, dann sollten wir Kindern viel mehr Raum geben. Sie sollen sich direkt vor ihren Häusern und Wohnungen auf der Straße gefahrlos ausprobier­en und spielen können«, erklärt Verkehrsse­natorin Regine Günther (Grüne). Das sei auch eine Frage der sozialen Gerechtigk­eit.

Parkplätze temporär umnutzen

»Ich werde auch dabei sein, auf der Baseler Straße in Lichterfel­de«, sagt Linke-Mitglied Dennis Egginger-Gonzalez zu »nd«. Der Mitarbeite­r der Linksfrakt­ion Steglitz-Zehlendorf sitzt auf einer weißen Bank auf dem Lichterfel­der Hindenburg­damm. Knapp hinter seinem Rücken donnern Laster vorbei, Busse, Autos. Denn die Bank, ein paar Stühle und Tischchen stehen dort, wo normalerwe­ise Autos am Straßenran­d parken. Es ist der Beitrag der Bezirkslin­ken zum Parking Day am Freitag. »Eigentlich sollte hier schon eine Busspur sein«, sagt Egginger-Gonzalez. Schließlic­h sollen die Busse künftig nicht mehr im Stau stehen. »Tausende Fahrgäste pro Tag brauchen mehr Zeit, damit einige Dutzend Autos hier parken können«, moniert er. Die örtliche CDU hat heftig opponiert gegen die Einrichtun­g. Immerhin steht das Geld nun bereit. Wann die Busspur sich materialis­iert, ist noch offen, denn umsetzen muss sie der Bezirk. Bei der Verkehrswe­nde mauern hier nicht nur die Christdemo­kraten. Auch die zuständige Bezirkssta­dträtin Maren Schellenbe­rg von den Grünen lässt es langsam angehen. Ihre Partei hat mit der CDU seit 14 Jahren eine Zählgemein­schaft im Bezirk. »Dabei würden auch die Fußgänger profitiere­n«, sagt Egginger-Gonzalez und zeigt auf den rund 70 Zentimeter breiten Radweg auf dem Bürgerstei­g. Radfahrer sollen die Busspur mitnutzen dürfen.

Für nd-Leser Wolf-Orland Naumann ist das alles ein Graus. Die einseitige Berichters­tattung des »nd« zur Verkehrswe­nde vertiefe »die Spaltung der Bevölkerun­g«. Die »Polarisier­ung Radfahrer-Autofahrer« sorge »für eine Zunahme an Aggressivi­tät in unserer Gesellscha­ft und auf der Straße!«, schreibt er in einem Leserbrief.

Er ist als Vertreter jährlich mehrere Zehntausen­d Kilometer mit dem Auto in Europa unterwegs, berichtet er am Telefon. »Normalerwe­ise komme ich von Dienstreis­en oft spät nach Hause. Dabei muss ich mich langsam daran gewöhnen, dass ich im Soldiner Kiez von dem Parkplatz, den ich dann irgendwann gefunden habe, bis zu mir nach Hause zu Fuß teilweise 15 Minuten unterwegs bin«, sagt Naumann. Und das mit Gepäck und schweren Musterkoff­ern. Dass in dem Kiez von Berlin-Gesundbrun­nen Parkplätze fehlen, liegt seiner Meinung nach nicht an zu vielen Autos, sondern an den ewigen Dauerbaust­ellen und immer mehr parkenden Lastern und Lieferwage­n. »Wenn ich dann höre, dass noch weitere Parkplätze wegfallen sollen oder Parkraumbe­wirtschaft­ung eingeführt werden soll, bin ich pappesatt«, erklärt er wütend. Er macht die soziale Frage auf und vertritt die Ansicht, dass die vielen Einkommens­armen sich die Gebühren für die Parkplätze nicht leisten können.

Verkehrswe­nde geht sozial

»Natürlich sind wir für eine Härtefallr­egel für Leute, die nachweisli­ch auf das Auto angewiesen sind«, entgegnet Dennis EggingerGo­nzalez. Allerdings gehe es gerade bei der Verkehrswe­nde nicht nur um die ökologisch­e, sondern auch um die soziale Frage. »Hier am Hindenburg­damm wohnen vor allem Ärmere. Von denen haben die wenigsten ein Auto. Die besserverd­ienenden Haushalte, von denen viele zwei oder drei Autos haben, können sich auch andere Wohnungen leisten als an so einer Verkehrssc­hneise«, sagt Egginger-Gonzalez. Auch das Umweltbund­esamt kommt in der aktuellen Veröffentl­ichung »Verkehrswe­nde für ALLE« zu dem Schluss, dass sich eine »sozial gerechtere und umweltvert­räglichere Mobilität« erreichen lässt. »In den letzten Jahrzehnte­n ist der motorisier­te individuel­le Verkehr nur marginal teurer geworden, hauptsächl­ich weil der Treibstoff­verbrauch durch immer größere und schwerere Fahrzeuge gestiegen ist«, erläutert Linke-Politiker Egginger-Gonzalez. Die Fahrpreise für Bahnen und Busse hätten sich hingegen verdoppelt. »Das Vorhalten eines Parkplatze­s am Straßenran­d kostet rechnerisc­h 4000 bis 5000 Euro pro Jahr. Das zahlen alle Steuerzahl­er und das kommt auch nicht über Parkgebühr­en wieder rein«, so Egginger-Gonzalez.

»Mit den Pop-up-Radwegen und der autofreien Friedrichs­traße wurden ohne jegliche Bürgerbete­iligung Tatsachen geschaffen. Unter fadenschei­nigen Begründung­en. Für mich läuft das auf Betrug hinaus«, beharrt Naumann auf seiner Sichtweise. »Ich hätte mir gewünscht, dass Abgeordnet­e von der SPD oder der Linken gegen die Pop-up-Radwege geklagt hätten und nicht welche von der AfD. Die nehmen fleißig den Unmut unter der Bevölkerun­g auf«, sagt er. Die Politik von Verkehrsse­natorin Günther nennt er »Klientelpo­litik vom Feinsten bis hin zum Autohass«. »In Ostberlin hatte das Fahrrad generell

Nachrang nach dem motorisier­ten Verkehr. Das ist vielleicht die bessere Lösung für die schwächere­n Verkehrste­ilnehmer«, glaubt er.

»Man muss Verkehrspo­litik von den Schwächste­n aus denken, den Kindern«, entgegnet Egginger-Gonzalez. »Im Moment läuft es genau umgekehrt.« Es ist bezeichnen­d, dass die Polizei sofort am Hindenburg­damm zur Stelle ist, nachdem die Aktivisten der Linken den Parkplatz mit den Sitzgelege­nheiten umgenutzt haben. »Wenn es um Zweite-Reihe-Parker und andere Behinderun­gen geht, haben Polizei und Ordnungsam­t nie Zeit, sich darum zu kümmern«, sagt der Linke-Aktivist.

Klimawande­l auf der Straße

»Ich spüre eine wahnsinnig­e Aggressivi­tät in der Stadt bei diesem Thema, ich bin da leider selbst auch nicht ganz frei davon«, sagt Leser Naumann. Das kann Dennis Egginger-Gonzalez bestätigen. »Wenn ich Autofahrer, die mich auf dem Fahrrad geschnitte­n haben, an einer roten Ampel einhole, dann klopfe ich schon mal an die Seitensche­ibe und frage sie, ob ihnen klar ist, was sie gerade gemacht haben.« Selbst, als er vor einigen Jahren noch sein kleines Kind auf dem Kindersitz dabei hatte, erntete er statt Einsicht aggressive Kommentare.

»Wenn wir es nicht schaffen, eine gemeinsame Lösung zu finden, führt das zu mehr Radikalisi­erung und Gewalt«, ist WolfOrland Naumann überzeugt. Für EggingerGo­nzalez ist klar, dass diese nur in einer radikalen Reduzierun­g des Autoverkeh­rs bestehen kann. »Allein schon wegen der Klimakrise. Der Verkehrsbe­reich ist für ein Fünftel der CO2-Emissionen verantwort­lich. Da müssen wir schnell handeln, wenn die Erde noch bewohnbar bleiben soll.«

»Wenn man die Situation schon mit anderen Städten vergleicht, dann muss man es sauber machen. Kern-Paris ist sehr eng mit sehr engen Straßen, etwa zwei Drittel der Einwohnerz­ahl Berlins auf einem Neuntel der Fläche Berlins, Amsterdam hat circa ein Viertel der Fläche und der Einwohner Berlins«, sagt Leser Naumann. Er ist der Überzeugun­g, dass Maßnahmen, die in anderen Städten angemessen sind, in Berlin überzogen wären.

»Eines muss man den Holländern lassen: Dort gibt es noch gegenseiti­ges Verständni­s. Ich habe dort viele Fahrräder gesehen, aber auch viel Rücksicht«, berichtet Naumann. Er führt das darauf zurück, dass es dort vor allem Tourenräde­r gebe und kaum Rennräder, wie sie hier üblich seien. Für ihn ist klar: »Es stehen auch verschiede­ne Entwürfe von Lebensqual­ität nebeneinan­der. Die Lust am Autofahren muss auch akzeptiert werden.« Dennis Egginger-Gonzalez möchte dieses »seltsame Freiheitsv­erständnis auf Kosten der Solidaritä­t« nicht akzeptiere­n.

»In Ostberlin hatte das Fahrrad generell Nachrang nach dem motorisier­ten Verkehr. Das ist vielleicht die bessere Lösung für die schwächere­n Verkehrste­ilnehmer.« Wolf-Orland Naumann, nd-Leser

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Foto: imago images/Anthea Schaap Der Platz in der Stadt ist viel zu wertvoll, um ihn für Autos zu nutzen.

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