Nicht insolvent genug für Staatshilfe
»SO36« bekam wegen vieler Spenden keine Soforthilfe.
Das Herz blutet. »Wir machen die Sachen hier ja auch für uns, für unsere Freund*innen, unsere Szene«, erklärt Anett Fleik zwei Tage, nachdem die Notbremse der Bundesregierung dafür gesorgt hat, dass Veranstaltungsorte wie die Kreuzberger Club-Legende »SO36« erneut pandemiebedingt schließen müssen. »Wir sind einer von sehr wenigen Orten, an denen sich Menschen aus der queeren muslimischen Community bei Veranstaltungen wie der Gayhane-Disco treffen können«, sagt Fleik. Sie ist eine von 80 Beschäftigten, die in Teilzeit für den kollektiv organisierten Laden arbeiten. Nimmt man die vielen regelmäßig engagierten Freischaffenden hinzu, treffe die Schließung nahezu 200 Leute, »ob unsere DJanes oder den Rollschuh-Disco-Tanzlehrer – eben all die wunderbaren Künstler*innen sind, die hier auftreten.«
Unter dem Motto DIY (Do it yourself) hat sich das 1978 gegründete »Esso«, wie es landläufig genannt wird, über die vergangenen Jahrzehnte zu einem mittelständischen Unternehmen entwickelt. Das professionalisierte DIY-Konzept hat den ehemaligen Punk- und New-Wave-Club durch alle Krisen gerettet – bis jetzt. Seinen Mythos bezieht er nicht nur aus Auftritten von David
Bowie, Iggy Pop, den Einstürzenden Neubauten oder Slime, sondern auch aus Geschichten wie dieser: Anfang der 80er Jahre, als viele Häuser in Kreuzberg geräumt wurden, gab es am nahen Heinrichplatz ein vor allem von Frauen besetztes Haus. Als es zur Räumung mit schwerem Gerät kam und sich die Polizei durch das extrem gesicherte Haus durchgekämpft hatte, waren die Besetzerinnen allerdings verschwunden: Sie hatten sich einen Fluchttunnel zum 50 Meter entfernten »SO36« gebuddelt. So erzählt es Erik Steffen, der am 2016 erschienenen Buch »SO36 – 1978 bis heute« mitgearbeitet hat.
Auch heute sind es die Menschen im und um das »SO36« herum, die dafür Sorge tragen, dass der Laden weiterläuft. Zu Beginn der Pandemie, während des Frühjahrs-Lockdowns, hielten zunächst Spenden den Laden über Wasser, so Anett Fleik. Dann hätten Kurzarbeitergeld und der Verkauf von Merchandise-Produkten geholfen. »Wir haben per Crowdfunding sogar unsere dreckigen Geschirrhandtücher verscherbelt«, berichtet die Veranstaltungskauffrau, die unter anderem für die Öffentlichkeitsarbeit im Club zuständig ist, über die durchaus findigen Ideen aus dem Netzwerk. Das habe allerdings zur Folge gehabt, dass man »nicht insolvent genug« gewesen sei, um die Soforthilfen in Anspruch nehmen zu können. »Wir haben gerade angefangen, alternative Konzepte, die uns auch gefallen, auszuprobieren«, erzählt die Mitarbeiterin. »Die jetzige Schließung ist schäbig und wird sehr vielen Künstler*innen nicht gerecht«, kommentiert sie die neueste Eindämmungsverordnung. Wer auf der Bühne stehe, brauche nun mal kein Büro.