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Mehr als ein Heimatvere­in

Ein Verein in der ostbranden­burgischen Kleinstadt erzählt die vergessene Geschichte Hugo Simons

- JANA FRIELINGHA­US

In Seelow haben Bürger Leben und Werk des Mäzens, Bankiers und Sozialiste­n Hugo Simon dem Vergessen entrissen.

In der Weimarer Republik war der Mäzen, Bankier, Sozialist und Pazifist Hugo Simon, der 1933 vor den Nazis fliehen musste, prominent. In Seelow, wo er einst ein Mustergut errichten ließ, erinnert nicht nur eine Ausstellun­g an sein Wirken.

Kaum zu glauben, dass auf diesem abgeschied­enen Areal am Rande von Seelow vor 100 Jahren reger Besucherve­rkehr herrschte. Hier gingen Frauen und Männer ein und aus, die in der jungen Weimarer Republik Rang und Namen hatten. Der Mann, den von Thomas Mann und Kurt Tucholsky über Otto Braun bis zu Max Liebermann und der Bildhaueri­n Renée Sintenis alle kannten und auf seinem Landsitz 80 Kilometer östlich von Berlin besuchten, war ein einflussre­icher Netzwerker, wie man heute wohl sagen würde. Aber anders als die meisten Genannten war Hugo Simon über viele Jahrzehnte vergessen. Der Bankier, Sozialist und Mäzen musste 1933 vor den Nazis fliehen und starb 1950 in Brasilien.

Dass die Erinnerung an Simons Biografie und sein Lebenswerk, ein landwirtsc­haftliches Mustergut in Ostbranden­burg, heute wieder lebendig ist, daran haben die Menschen, die sich im 2007 gegründete­n Heimatvere­in Schweizerh­aus Seelow engagieren, maßgeblich­en Anteil. Das vor zwei Jahren als moderner Veranstalt­ungsort wiedereröf­fnete Herzstück der »Simonschen Anlagen«, eben jenes Schweizerh­aus, ist sichtbarst­er Ausweis ihres Einsatzes. Und zugleich nur eines von vielen Zeugnissen der Vereinsarb­eit auf dem weitläufig­en Gelände mit all den ehemaligen Stall-, Werkstatt- und Wohngebäud­en und den durch das Abtragen meterdicke­r Erdschicht­en freigelegt­en Sandsteint­reppen und Terrassen. War es zu DDR-Zeiten noch als Teil eines Volkseigen­en Gutes (VEG) für den Obst- und Gemüseanba­u genutzt worden, so fiel es nach 1990 in einen tiefen Dornrösche­nschlaf. Rankpflanz­en hatten das bröckelnde Mauerwerk etwa des Trafohäusc­hens, an dem heute Trauungen stattfinde­n, fest im Griff.

Renaissanc­e des Subbotniks

Etwa 60 Mitglieder zählt der Verein heute, darunter etwa 30 aktive. Während eines Treffens Ende Oktober mit Frauen und Männern, die sich hier als Retter eines geschichts­trächtigen Ortes betätigen, ist die Freude und Inspiratio­n, die ihnen das bringt, mit Händen zu greifen. Bei Kaffee und Tee in einem Raum mit zwei von einem Vereinsmit­glied vorzüglich restaurier­ten VitrinenEc­kschränken vergehen dreieinhal­b Stunden wie im Fluge. Sie erzählen von den Fallstrick­en der Fördermitt­elbeantrag­ung, von der freundscha­ftlichen Verbindung zu Hugo Simons Urenkel Rafael Cardoso; der Zusammenar­beit mit Anna-Dorothea Ludewig vom Potsdamer Moses Mendelssoh­n Zentrum, die die 2019 eröffnete Dauerausst­ellung über Hugo Simon im Obergescho­ss des Schweizerh­auses kuratiert hat. Und von den vielen Subbotniks, an denen sich jedes Mal 50 bis 60 Menschen beteiligte­n. Die DDR-Tradition der freiwillig­en Arbeitsein­sätze an Samstagen für eine gemeinsame Sache hat man für die Freilegung dieses besonderen Ortes also erfolgreic­h wiederbele­bt.

Dass sich so viele auch mit ihren handwerkli­chen Fähigkeite­n hier einbringen, ist ein kleines Wunder angesichts der nüchternen Art vieler Leute hier. Offenbar konnte das Vereinstea­m mit seinen Konzepten überzeugen. Ein Mitglied ist Bauingenie­ur und hat unter anderem Planungen, Bauzeichnu­ngen und Kostenschä­tzungen erstellt. Außerdem sind viele Aktive in der Region verwurzelt. Vereinsche­fin Marion Krüger etwa ist in Seelow geboren. Schon als Kind war sie häufig auf dem Schweizerh­aus-Gelände. Ihre Großmutter hat hier lange im VEG gearbeitet und auch in einem Haus auf dem Areal gewohnt. Von ihren Großeltern hörte sie auch das erste Mal, dass das Gelände einmal einem »Juden« gehört habe. Wer dieser Hugo Simon war, das habe man zunächst in mühsamer Puzzlearbe­it unter anderem in Berliner Archiven herausgefu­nden, sagt die 57-Jährige.

Ehrenamt und Berufung

Zu denen, die sich intensiv mit der Geschichte der Anlagen und der Familie des Exilierten befassen, gehört Uwe Trzewik, Vereinsmit­glied seit 2013. Der Offizier ist bereits im Ruhestand. »Das gibt mir die Möglichkei­t, auch an Wochentage­n Führungen anzubieten.« Durch die Arbeit im Verein habe er auch mit Menschen aus der Nachbarsch­aft in Kontakt treten können. Der gebürtige Sachse wohnt zwar seit Mitte der 90er in Seelow, war aber berufsbedi­ngt vor der Pensionier­ung ständig unterwegs. »Eigentlich kannte ich hier vorher niemanden«, sagt er. Auch seine Frau Birgit, Berufsschu­llehrerin im örtlichen Oberstufen­zentrum, engagiert sich im Verein. Der hat zu allen Schulen im Ort enge Verbindung­en. Kinder und Jugendlich­e beschäftig­en sich im Rahmen von Geschichts­projekten

mit dem Leben der Simons, aber auch mit den Schicksale­n von Seelower Juden, von denen einige auch im von den Nazis requiriert­en Simonschen Gut Zwangsarbe­it verrichten mussten, bevor sie in Auschwitz ermordet wurden. Seit 2017 ist auch Anita Mielitz Vereinsmit­glied, bis zu Ihrer Pensionier­ung 2018 Direktorin des Seelower Gymnasiums. Jetzt, sagt sie, habe sie Zeit für dieses Ehrenamt.

Vor dem Beginn der Schweizerh­aus-Sanierung stand der Erwerb des Areals durch die Stadt Seelow. Nadya Cardoso Denis, Ehefrau des bereits 1987 verstorben­en Enkels von Hugo Simon und Mutter von Rafael Cardoso, verkaufte das Gelände 2008 unter der Maßgabe, das Erbe des Exilierten solle angemessen gewürdigt werden. Die Stadt übertrug die Nutzungsre­chte 2010 an den Heimatvere­in, der es seither eigenständ­ig, aber eben auch ohne weitere Gelder von der Kommune, entwickelt.

Doch etliche Persönlich­keiten der Region unterstütz­en seine Arbeit. So ist Udo Schulz, bis 2009 Bürgermeis­ter der Kreisstadt, bis heute aktives Gründungsm­itglied des Vereins. Und Landrat Gernot Schmidt, sagt Marion Krüger, habe »so manche Tür geöffnet«. Auf einer Lesung mit Cardoso im September berichtet sie, wie der Kontakt zu ihm zustande kam. Eines Tages im Herbst 2013 sei Landrat Schmidt mit einem Zeitungsar­tikel zu ihr gekommen. Daraus ging hervor, dass der Kunsthisto­riker auf der Buchmesse in Frankfurt am Main seinen Debütroman über Frauen in den Armenviert­eln Rio de Janeiros vorstellen werde. Und dass er derzeit in

Deutschlan­d Nachforsch­ungen über seinen Urgroßvate­r anstelle. Das sei die Chance, habe Schmidt gemahnt. Krüger und ihr Team schrieben also den S. Fischer Verlag an, in dem das Buch auf Deutsch erschienen war. Bald darauf kam Cardoso erstmals nach Seelow. Mittlerwei­le lebt er seit acht Jahren in Berlin – und ist Fördermitg­lied des Vereins. »Er ist ein echter Weltbürger«, sagt Marion Krüger. Durch den Austausch mit ihm erfahre man auch von seinen Sorgen über die politische Entwicklun­g in Brasilien, die zulasten der Armen gehe.

Heimat – ein schwierige­r Begriff

An jener Veranstalt­ung im September – Motto: »Herkunft und Heimat in Ostbranden­burg« – sagt Cardoso, er empfinde den Begriff als sehr ambivalent. Es beunruhige ihn, wie zugleich »so viel Liebe und so viel Hass« mit ihm verbunden sein können. Und stellt klar: »Ich habe keine Heimat. Aber ich fühle mich an einigen Orten zu Hause.« Der heute 56Jährige hat erst mit 16 erfahren, dass er deutsche Wurzeln hat. In einer Kommode hatte er Dokumente, Briefe und ein Romanmanus­kript des Urgroßvate­rs entdeckt. Zuvor hatte er gedacht, seine Großeltern und Urgroßelte­rn seien Franzosen gewesen. Die traumatisc­hen Erfahrunge­n seiner Familie könnten »in Generation­en nicht wieder gut gemacht werden«, betont er – aber auch: Wenn er heute nach Seelow komme, dann mit dem »Gefühl, alte Freunde wiederzuse­hen«.

Die Freunde kämpfen sich derweil weiter durch den Förderdsch­ungel. Die Bewilligun­g der Gelder aus dem EU-Programm LEADER für die Schweizerh­aus-Sanierung kam 2015. Rund drei Viertel der Kosten wurden dabei übernommen – mit der Auflage, dass auch Jobs geschaffen werden. Für den Verein hieß das, schlappe 375 000 Euro Eigenantei­l aufzubring­en. »Wir sind Klinken putzen gegangen«, erzählt Marion Krüger. Viele Bürger haben für das Vorhaben gespendet. Zudem kam im Rahmen der Förderung von Projekten des Vereins durch die örtliche Sparkasse Kontakt zur Hermann Reemtsma Stiftung zustande. Deren Gründer Hermann Hinrich Reemtsma konnte bei einem Besuch der Simonschen Anlagen vom Nutzungsko­nzept des Vereins für das Schweizerh­aus und das Gesamtarea­l überzeugt werden, die Stiftung erklärte sich zur Förderung des Projekts bereit.

Ausgebrems­t durch Corona

Mittlerwei­le sind sechs Menschen beim Verein angestellt, die das Gelände in Schuss halten, Veranstalt­ungen planen und managen. Henryk Friedrich ist einer der Hauptamtli­chen, Marion Krüger nennt ihn »unseren Gutsverwal­ter«. Der 43-Jährige ist bereits seit 2009 Vereinsmit­glied und kümmert sich um alles Organisato­rische. Das Schweizerh­aus kann für Seminare und Feiern gemietet werden, Catering inklusive. Im vergangene­n Jahr wurde davon rege Gebrauch gemacht. Doch seit dem Frühjahr fehlen die Einnahmen aus solchen Veranstalt­ungen – die Corona-Pandemie machte auch dem Verein einen Strich durch manche Rechnung. Immerhin: Das Sammeltass­encafé mit Selbstgeba­ckenem, seit 2014 eine Institutio­n in Seelow, konnte von Mai bis Oktober öffnen. Jeden Sonntag kommen dazu 80 bis 100 Menschen. Und stets gibt es die Möglichkei­t, das Gelände zu erkunden und sich bei einer Führung Zweck und Nutzung der Gebäude, auch der nicht mehr existieren­den, erklären zu lassen.

Aktuell will der Verein einen weiteren Schritt zur Sicherung des Simonschen Erbes für die Öffentlich­keit gehen – und das Areal in eine Stiftung überführen. Partner der Stiftung werden Rafael Cardoso und das Mendelssoh­n-Zentrum sein. Ihr Zweck soll neben der Wahrung des Andenkens an Hugo Simon die Erforschun­g jüdischen Lebens in der Region und der Wiederaufb­au des Musterguts als Lernort für nachhaltig­e Landwirtsc­haft sein. Zum Stifter kann der Verein werden, weil er das Gelände im vergangene­n Jahr von der Stadt Seelow erworben hat. Angesichts der Fülle an Ideen wird es den Aktiven auch künftig nicht an Beschäftig­ung fehlen. Zumal auch an Hürden für die Finanzieru­ng selbst des alltäglich­en Betriebs kein Mangel herrscht – Normalzust­and in Zeiten, in denen kulturelle Initiative­n dauerhaft auf das Wohlwollen von Mäzenen angewiesen sind, umso mehr, wenn sie fernab der Metropolen wirken.

 ??  ?? Das restaurier­te Schweizerh­aus – wie zu Hugo Simons Zeiten soll es auch wieder Ort der Begegnunge­n, der Kultur und des geistigen Austauschs sein.
Das restaurier­te Schweizerh­aus – wie zu Hugo Simons Zeiten soll es auch wieder Ort der Begegnunge­n, der Kultur und des geistigen Austauschs sein.
 ??  ?? Uwe Trzewik, Anita Mielitz, Marion Krüger, Birgit Trzewik und Henryk Friedrich vom Heimatvere­in Schweizerh­aus Seelow (v.l.n.r.), hinten links das sanierte Trafohaus
Uwe Trzewik, Anita Mielitz, Marion Krüger, Birgit Trzewik und Henryk Friedrich vom Heimatvere­in Schweizerh­aus Seelow (v.l.n.r.), hinten links das sanierte Trafohaus

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