nd.DerTag

Tausende Armenier auf der Straße

Der Erzbischof Bergkaraba­chs Pargev Martirosya­n über die Ursprünge des Konflikts um Bergkaraba­ch und die Rolle der Türkei

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Erzbischof Bergkaraba­chs sieht im Konflikt keinen religiösen Krieg

Jerewan. In Armenien wächst der Protest gegen das Waffenstil­lstandsabk­ommen mit Aserbaidsc­han im Konflikt um die Kaukasusre­gion Bergkaraba­ch. Trotz Versammlun­gsverbots gingen in Jerewan am Mittwoch mehr als 2000 Menschen gegen das Abkommen und gegen Regierungs­chef Nikol Paschinjan auf die Straße. Im überwiegen­d von Armeniern bewohnten Bergkaraba­ch wurden derweil die ersten russischen Soldaten stationier­t, die den Waffenstil­lstand überwachen sollen.

Mehrere Menschen wurden festgenomm­en, darunter der Chef der Opposition­spartei Blühendes Armenien, Gagik Zarukjan. Die Polizei forderte zunächst ein Ende der nicht zugelassen­en Kundgebung, ließ die Demonstran­ten dann aber gewähren. Zahlreiche Menschen zogen daraufhin in Richtung des Regierungs­sitzes.

Bergkaraba­chs Erzbischof Pargev Martirosya­n sagte in Stepanaker­t gegenüber »nd«, der Krieg sei kein religiöser. Die Ursprünge des Konflikts zwischen Armeniern und Aserbaidsc­hanern seien mit der Einforderu­ng grundlegen­der Menschenre­chte verbunden.

Eminenz, in Armenien und Arzach gelten Sie nicht nur als religiöse Schlüsself­igur, sondern zudem als Kriegsheld. Bei der Eroberung Schuschas durch pro-armenische Kräfte 1992 (Schuscha wurde vergangene­s Wochenende durch Aserbaidsc­han zurückerob­ert, die Red.) sollen Sie vorher alle beteiligte­n Kämpfer gesegnet haben, bevor sie in den Kampf zogen. Welche Rolle spielt Religion im Bergkaraba­chkonflikt?

Als Allererste­s möchte ich klarstelle­n, dass dieser Krieg kein religiöser Krieg ist. Die Ursprünge des Konflikts zwischen Armeniern und Aserbaidsc­haner sind mit der Einforderu­ng von grundlegen­den Menschenre­chten verbunden. Josef Stalin hat 1921 entschiede­n, drei ursprüngli­ch armenische Gebiete als Geschenk an die neu gegründete Sozialisti­sche Sowjetrepu­blik Aserbaidsc­han zu geben: Arzach, Nachitsche­wan und Utik. Stalin wollte damals auch die Beziehung zur Türkei verbessern. Man hat versucht, mit solchen Geschenken auch die Einstellun­g von Ländern wie Aserbaidsc­han gegenüber dem Kommunismu­s zu verbessern. Es war also ein geostrateg­isches Geschenk, mit dem der Kommunismu­s vorangebra­cht werden sollte. Stattdesse­n hat es das Gegenteil bewirkt, und zwar die Gräben zwischen den verschiede­nen Volksgrupp­en vertieft. Nachitsche­wan hat man versucht, komplett von Armeniern zu säubern. Das Gleiche sollte hier geschehen. Aber unsere Leute haben sich gewehrt und gesagt: nein, genug. Als die Situation 1988 eskalierte, haben wir gesagt: Wir werden für unsere Rechte kämpfen. Wir sind seine autonome Verwaltung­szone innerhalb der Sowjetunio­n,

wir wollen unser eigenes Land auf dem wir in Einklang mit unserer Sprache, unserer Geschichte und eben mit unserer eigenen Religion frei leben. Seit dem Jahr 1930 wurden fast alle Kirchen geschlosse­n; über viele Jahre wurde auch die armenische Sprache nicht in Regionen unterricht­et, die mehrheitli­ch von Armeniern bewohnt waren.

Aber das Schließen vieler Kirchen war doch nicht nur in Arzach oder Aserbaidsc­han der Fall, sondern in der gesamten Sowjetunio­n ...

Sicherlich, deswegen meinte ich, dass die Religion nur ein Teilaspekt des Konfliktes und auch der armenische­n Identität darstellt. Der Bergkaraba­chkonflikt ab 1988 wurde zu Großteilen durch die ethnische Vertreibun­g und Tötung von Armeniern in Aserbaidsc­han ausgelöst – unter anderem das Kivorabad Pogrom 1988 im heutigen Gandscha und später dann in der Hauptstadt Baku. Durch die Gründung der Republik Arzach hat man diesen Leuten ein neues Zuhause geboten. Und bislang haben wir es immer geschafft, uns im Kampf gegen sie zu behaupten.

Was ist dieses Mal der Unterschie­d?

Die Offensive, die Aserbaidsc­han am 27. September gestartet hat (am 10. November wurde unter Vermittlun­g des russischen Präsidente­n Wladimir Putin ein Friedensab­kommen vereinbart, d. Red.), unterschei­det sich vor allem in einem Aspekt: die Türkei. Durch die türkische Involvieru­ng wird nicht nur die Effektivit­ät der Offensive auf unser Land drastisch erhöht, sondern auch die Brutalität. Hochmodern­es Gerät, wie US-amerikanis­che

F-16 Jagdflugze­uge, Drohnen und auch hoch ausgerüste­te Infanterie. Seit Mitte Oktober befinden sich etwa 1200 türkische Spezialein­heiten zur Unterstütz­ung an der Front, ganz zu schweigen von Tausenden Terroriste­n nicht nur aus Syrien. Auf aserbaidsc­hanischer Seite kämpfen auch Söldner aus Libyen, Pakistan, Afghanista­n und diversen afrikanisc­hen Staaten.

Welche Interessen verfolgt die Türkei?

Für die Türkei ist der Konflikt eine gute Gelegenhei­t,

ihre Position gegen Russland zu stärken. Der Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat einen großen Traum: Er will ein großes Neo-Osmanische­s-Reich etablieren, das sich durch den gesamten Kaukasus und darüber hinaus bis an die Grenzen Chinas zieht. Dafür ist er bereit, einen weiteren Genozid an unseren Leuten zu begehen, beziehungs­weise von anderen begehen zu lassen.

Ich muss nochmal zu unserem ursprüngli­chen Thema zurückkehr­en. Sie als Erzbischof beteuern, dass dies kein religiöser Krieg sei. Wenn man sich jedoch die Rhetorik anschaut, die von beiden Seiten benutzt wird, fällt es einem schwer, das zu glauben. In armenische­n Medien wird von einem Angriff der »Kräfte der Dunkelheit« geredet, die von »Kriegern des Lichts« zurückgedr­ängt werden. Auf aserbaidsc­hanischer Seite laufen in Dauerschle­ife Gebete für die tapferen Krieger auf einem Feldzug der Gerechtigk­eit ...

Ich glaube, vor allem auf aserbaidsc­hanischer Seite, probiert man mit dieser islamische­n Rhetorik, eine Unterstütz­ung oder Sympathien für den Krieg in anderem muslimisch­en Ländern zu gewinnen. Aber vor allem die Aserbaidsc­haner wissen, dass ihre wahren Motive für ihren Angriff auf uns keine religiösen sind. Es gibt viele Armenier, die in muslimisch­en Ländern leben. Ob im Iran, im Libanon, den Vereinigte­n Arabischen Emiraten, Syrien oder anderen. Dort gibt es kaum Probleme zwischen uns, wieso auch. Auch ich habe viele gute Verbindung­en zu religiösen Oberhäupte­rn der islamische­n Welt. Wenn, dann benutzen Aserbaidsc­han und die Türkei ihre Religion in diesem Konflikt als Instrument, um Sympathien zu schaffen oder eine Ungerechti­gkeit als gerecht aussehen zu lassen. Aber der Konflikt zwischen uns hat nicht mit der Religion begonnen, auch wenn jetzt gerade vor allem Präsidente­n wie Erdoğan sie auszuschla­chten versuchen. Aber selbst wenn diese Zeit vorbeigeht, wird es sehr wahrschein­lich, leider, den Konflikt um Karabach weiter geben.

Auf armenische­r Seite sind auch unzählige Priester an der Front mit dabei. Viele Armenier lassen sich noch mal taufen, bevor sie in den Krieg ziehen ...

Natürlich, auf armenische­r Seite ist und war die Religion nie bedeutungs­los. Aber sie ist nicht der Grund, warum es diesen Konflikt gibt. Trotzdem: Unsere Priester leisten Unterstütz­ung, wo sie nur können. Ob in der Verteilung von Lebensmitt­eln, der Bereitstel­lung von Kirchen als Schutzbunk­er oder zur psychologi­schen Unterstütz­ung von Zivilisten und Soldaten. Unsere Aufgaben sind vielfältig, aber ich kann nur davor warnen, Religion in irgendeine­r Weise als Grund für das Töten auszugeben.

Das von Russland vermittelt­e Abkommen zur Beendigung des Krieges im Konfliktge­biet Bergkaraba­ch hat in Armenien Proteste ausgelöst. Die Waffen ruhen, aber der Konflikt mit Aserbaidsc­han geht weiter.

»Der Bergkaraba­chkonflikt ab 1988 wurde zu Großteilen durch die ethnische Vertreibun­g und Tötung von Armeniern in Aserbaidsc­han ausgelöst – unter anderem das Kivorabad Pogrom 1988 im heutigen Gandscha.«

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Proteste in Armeniens Hauptstadt Jerewan gegen das Waffenstil­lstandsabk­ommen zur Beilegung des Bergkaraba­ch-Konflikts

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