Schulbetrieb gerät ins Stocken
Lehrerverband beklagt hohe Quarantänezahlen. Regelunterricht steht auf der Kippe
Angesichts steigender Quarantänezahlen ist eine neue Diskussion über den Präsenzunterricht an den Schulen entbrannt. Die Politik will daran noch festhalten.
Eigentlich sind die Schulen nach den Sommerferien wieder zum Präsenzunterricht zurückgekehrt. Aber Normalität herrscht deshalb noch lange nicht. Der Unterricht läuft zwar an den meisten Schulen unter Pandemiebedingungen weiter, doch mussten sich in den vergangenen Tagen immer mehr Schüler und Lehrer in Quarantäne begeben. Mehr als 300 000 Schüler und bis zu 30 000 Lehrer sollen es mittlerweile laut Deutschem Lehrerverband sein, der von einem »Salami-Lockdown« spricht. Längst würden die Gesundheitsämter Tatsachen schaffen, während die politischen Entscheidungsträger auf Biegen und Brechen am Präsenzunterricht festhalten würden, so der Vorwurf des Verbandspräsidenten Heinz-Peter Meidinger gegenüber der »Passauer Neuen Presse«.
Angesichts der steigenden Corona-Infektionen hatte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) dazu angeregt, auch an den Grundschulen eine Maskenpflicht im
Unterricht einzuführen. Bislang gilt diese Regelung nur an weiterführenden Schulen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) schlug zudem vor, die Weihnachtsferien im Dezember um zwei Tage zu verlängern. Dafür könnten die unterrichtsfreien Tage an Karneval wegfallen. Dies sei eine »denkbare Möglichkeit«, sagte Laschet dem WDR. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zeigte sich offen gegenüber einem früheren Ferienbeginn.
Meidinger hofft indes im Gespräch mit dem »nd«, dass generelle Schulschließungen noch zu vermeiden sind. Allerdings müssten bei exponentiell wachsenden Infektionszahlen wie derzeit die Vorsichtsmaßnahmen erhöht werden. Neben der erweiterten Maskenpflicht sollten auch die Abstandsregeln wieder eingeführt werden. Das würde aber dazu führen, dass die Klassen halbiert und im Wechselmodell unterrichtet werden müssten. Damit stünde zwar der Vollbetrieb der Schulen in Frage, so könnte allerdings der Präsenzunterricht in Teilen aufrechterhalten werden – was dazu beitragen könnte, einen neuerlichen Ausnahmezustand an den Schulen, den die Kultusminister von Bund und Ländern eigentlich vermeiden wollen, zu verhindern.
Doch seit dem Frühjahr hat sich eine Menge getan. Schulen haben sich mit Mitteln des Bundes Laptops angeschafft, die sie an bedürftige Schüler ausleihen können; und auch viele Lehrkräfte haben sich digital weitergebildet. »Es deutet einiges darauf hin, dass der Unterricht jetzt besser laufen würde als noch im Frühjahr«, sagte Meidinger.
Doch es gibt nach wie vor auch Probleme beim digitalen Unterricht. Um ein Wechselmodell an den weiterführenden Schulen reibungslos praktizieren zu können, müssten die Schüler zu Hause per Video zugeschaltet werden können. Dafür seien aber viele Lernplattformen nicht ausgelegt, so der Verbandspräsident. Ein hybrider Unterricht wäre also auch weiterhin nicht überall zufriedenstellend umsetzbar.
Es droht ein neuerlicher Ausnahmezustand, den die Kultusminister nach den Erfahrungen im Frühjahr eigentlich vermeiden wollten.
Angesichts der Infektionszahlen erneuert die GEW ihre Kritik an der Umsetzung des Corona-Stufenplans für die Schulen. Die Linke äußert zwar Verständnis, bleibt aber bei ihrer Position, die Schulen so lange wie möglich offen zu halten.
Überall werden Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen stark reglementiert, nur in Klassenräumen soll es in Ordnung sein, dass Tag für Tag 30 Schüler zusammensitzen, in der Regel ohne Mund-Nasen-Schutz? Das ist nicht mehr zu vermitteln, findet die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie bleibt daher bei ihrer Forderung, »zum Schutz von Beschäftigten und Schülerinnen und Schülern das Alternativszenario im Corona-Stufenplan jetzt umzusetzen«.
Das »Alternativszenario« würde nach dem vierstufigen Stufenplan von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) die Rückkehr zum sogenannten Hybridunterricht, dem Mix aus Präsenzunterricht und Daheimbeschulung bedeuten. Es entspricht damit der höchsten Alarmstufe Rot. Das Recht auf Bildung sei zweifelsohne ein hohes Gut, so Berlins GEWChef Tom Erdmann. Aber man dürfe die Schulen nicht auf Kosten der Gesundheit der Betroffenen auf Biegen und Brechen im Regelbetrieb halten. »Das wird zunehmend zu einem unkalkulierbaren Risiko.«
Unterstützung für die Forderung der Bildungsgewerkschaft kommt vom ehemaligen Landesschülersprecher Miguel Góngora. »Das Problem ist, dass die Politik nur noch ein Ziel verfolgt, nämlich die Schulen auf keinen Fall zu schließen«, sagt Góngora, der für die SPD bei den Wahlen im kommenden Jahr ins Abgeordnetenhaus ziehen will – aber sich mit Kritik an seiner Parteikollegin Scheeres noch nie zurückgehalten hat. Es gehe der Bildungsverwaltung nur darum, die Stufe Rot zu vermeiden, um so lästige Diskussionen auszusparen. »Dabei müssen jetzt die Grundlagen geschaffen werden, um schleunigst den Übergang zum Hybridunterricht gewährleisten zu können.«
Aber ist das überhaupt nötig? Nach der »nd« vorliegenden Covid-19-Statistik der Bildungsverwaltung sind an den öffentlichen allgemeinbildenden Schulen derzeit 251 Beschäftigte und 797 Schüler positiv getestet. Ein Wert, der im Hinblick auf die Berliner Gesamtschülerzahl von über 330 000 erst einmal überschaubar wirkt. Unklar ist freilich, ob die erfassten Fälle das Infektionsgeschehen an den Schulen auch tatsächlich abbilden.
Die bildungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Regina Kittler, warnt jedenfalls vor Aktionismus. »Ich verstehe den Einsatz der GEW für die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen«, so Kittler. Auch ihr sei schließlich klar, dass viele Lehrkräfte Angst haben, sich im Unterricht mit dem Coronavirus zu infizieren. »Unsere Position ist und bleibt aber, dass die Schulen so lange wie möglich offen gehalten werden.« Es dürfe nicht wieder passieren, »dass Kinder und Jugendliche verloren gehen, wie das im Frühjahr und Sommer der Fall war«.
Für den Moment, so Kittler zu »nd«, müsse die Bildungsverwaltung erst einmal dafür sorgen, dass die Kohortenregelung aus dem Stufenplan überarbeitet wird. Nach der aktuellen Regelung sollen sich in den – für derzeit ja nahezu alle Berliner Schulen geltenden – Stufen Grün, Gelb und Orange Klassen und Lerngruppen zwar »nicht untereinander vermischen«, dies aber auch nur, »soweit dies organisatorisch möglich ist«. Erst bei Stufe Rot gilt, dass in festen Gruppen unterrichtet und betreut werden soll. Ein Unding, findet Kittler. »Wir müssen die Durchmischung vermeiden, und zwar sofort.«
Angesichts der Diskussion, wie es denn nun konkret weitergehen soll, fragt sich Linke-Politikerin Kittler zudem, wann es valide Auswertungen der im Sommer gestarteten Corona-Schulstudie der Charité gibt. »Ich erwarte hier jetzt endlich, dass die Ergebnisse der Studie ausgewertet und vorgelegt werden.« Anhand dieser Erkenntnisse müsse man dann prüfen, ob mit Blick auf die derzeitige Vorgehensweise »ein Nachsteuern« nicht vielleicht doch dringend geboten ist.
Wie das für die Studie zuständige Haus von Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (SPD) bestätigt, läuft aktuell die zweite Phase der Testungen. Die dazugehörigen Ergebnisse werden »vermutlich in einigen Tagen« veröffentlicht, so Krachs Sprecher Matthias Kuder zu »nd«. Kuder weist zugleich ausdrücklich darauf hin, dass es sich um eine auf ein Jahr angelegte Langzeitstudie handelt. »Endgültige valide Ergebnisse kann es erst nach Abschluss der Studie im Sommer 2021 geben. Momentan können wir nur Zwischenergebnisse liefern.« Das sei im Studiendesign auch bewusst so angelegt, um abschließend unter anderem die Auswirkungen der Wellenbewegungen der Pandemie an den Schulen nachvollziehen zu können.