Gedenkstättenleiter im Visier von Rechten
Anzeige wegen »übler Nachrede« über Wehrmachtsverbrechen
»Aufrüstung, Krieg und Verbrechen – Die Wehrmacht und die Kaserne Bergen-Hohne« lautet der Titel eines wissenschaftlichen Begleitbandes. Die in diesem Jahr veröffentlichte und mehr als 100-seitige Broschüre ergänzt eine Ausstellung der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen zur Rolle der Wehrmacht in der NS-Zeit. Der Herausgeber Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, davor Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, staunte nicht schlecht, als am Montag bei ihm anstatt einer Rezension ein Brief von der Göttinger Staatsanwaltschaft hereinflatterte. Er wurde informiert, dass gegen ihn Strafanzeige erstellt wurde.
Der Vorwurf: In dem Buch würden »ehrenrührige Tatsachen zum Nachteil der Wehrmachtssoldaten« behauptet. Der Straftatbestand umfasst also »üble Nachrede«. Das Verfahren wurde in Niedersachsen eröffnet, da der Verlag in Göttingen seinen Sitz hat. Wagner kommentierte in sozialen Medien: »Kein Scherz – und nicht 1944, sondern 2020.« Er könne den Vorwurf selbst kaum fassen. »Ich muss bekennen, dass ich so etwas 25 Jahre nach der Debatte um die Wehrmachtsausstellung nicht für möglich gehalten hätte«, erklärte der Gedenkstättenleiter.
Nach der Bekanntgabe der Ermittlungen gab es zahlreiche Protestmeldungen. Auf Nachfrage erklärte die zuständige Staatsanwaltschaft am Tag darauf, dass das Verfahren wieder eingestellt wurde. Der Göttinger Oberstaatsanwalt Andreas Buick sei zu dem Ergebnis gekommen, dass nichts Strafbares vorliege.
Das Problem gehe jedoch über die Anzeige hinaus, erklärte Wagner. »Wir erleben seit einigen Jahren eine Diskursverschiebung nach rechts«, sagte er gegenüber Medien. Dies habe auch mit den Angriffen der AfD auf die Gedenkstättenarbeit zu tun. Es sei bemerkenswert, dass die Behörde die Anzeige nicht sofort als gegenstandslos zurückgewiesen habe. Die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen sei spätestens seit Ende der zweiten Wehrmachtsausstellung und der sie begleitenden Debatte offizieller Konsens in der Wissenschaft. Offensichtlich sei es wieder möglich, die Verbrechen der Wehrmacht infrage zu stellen, so Wagner.
Der Gedenkstättenleiter sieht eine zeitliche Verbindung der Anzeige zum Verhalten des Stadtrates im niedersächsischen Bergen in jüngster Vergangenheit. Einer von ihm mit Bürgermeisterin Claudia Dettmar-Müller (parteilos) erarbeiteten Erklärung zum Weltfriedenstag, in der »von den Verbrechen der Wehrmacht und der SS vor unserer Haustür« die Rede sei, habe die Mehrheit im Stadtrat zweimal die Zustimmung verweigert. »Und das explizit unter Verweis auf die Wehrmacht«, sagte Wagner.