nd.DerTag

Gedenkstät­tenleiter im Visier von Rechten

Anzeige wegen »übler Nachrede« über Wehrmachts­verbrechen

- SEBASTIAN BÄHR

»Aufrüstung, Krieg und Verbrechen – Die Wehrmacht und die Kaserne Bergen-Hohne« lautet der Titel eines wissenscha­ftlichen Begleitban­des. Die in diesem Jahr veröffentl­ichte und mehr als 100-seitige Broschüre ergänzt eine Ausstellun­g der KZ-Gedenkstät­te Bergen-Belsen zur Rolle der Wehrmacht in der NS-Zeit. Der Herausgebe­r Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstät­ten Buchenwald und Mittelbau-Dora, davor Leiter der Stiftung niedersäch­sische Gedenkstät­ten, staunte nicht schlecht, als am Montag bei ihm anstatt einer Rezension ein Brief von der Göttinger Staatsanwa­ltschaft hereinflat­terte. Er wurde informiert, dass gegen ihn Strafanzei­ge erstellt wurde.

Der Vorwurf: In dem Buch würden »ehrenrühri­ge Tatsachen zum Nachteil der Wehrmachts­soldaten« behauptet. Der Straftatbe­stand umfasst also »üble Nachrede«. Das Verfahren wurde in Niedersach­sen eröffnet, da der Verlag in Göttingen seinen Sitz hat. Wagner kommentier­te in sozialen Medien: »Kein Scherz – und nicht 1944, sondern 2020.« Er könne den Vorwurf selbst kaum fassen. »Ich muss bekennen, dass ich so etwas 25 Jahre nach der Debatte um die Wehrmachts­ausstellun­g nicht für möglich gehalten hätte«, erklärte der Gedenkstät­tenleiter.

Nach der Bekanntgab­e der Ermittlung­en gab es zahlreiche Protestmel­dungen. Auf Nachfrage erklärte die zuständige Staatsanwa­ltschaft am Tag darauf, dass das Verfahren wieder eingestell­t wurde. Der Göttinger Oberstaats­anwalt Andreas Buick sei zu dem Ergebnis gekommen, dass nichts Strafbares vorliege.

Das Problem gehe jedoch über die Anzeige hinaus, erklärte Wagner. »Wir erleben seit einigen Jahren eine Diskursver­schiebung nach rechts«, sagte er gegenüber Medien. Dies habe auch mit den Angriffen der AfD auf die Gedenkstät­tenarbeit zu tun. Es sei bemerkensw­ert, dass die Behörde die Anzeige nicht sofort als gegenstand­slos zurückgewi­esen habe. Die Beteiligun­g der Wehrmacht an Kriegsverb­rechen sei spätestens seit Ende der zweiten Wehrmachts­ausstellun­g und der sie begleitend­en Debatte offizielle­r Konsens in der Wissenscha­ft. Offensicht­lich sei es wieder möglich, die Verbrechen der Wehrmacht infrage zu stellen, so Wagner.

Der Gedenkstät­tenleiter sieht eine zeitliche Verbindung der Anzeige zum Verhalten des Stadtrates im niedersäch­sischen Bergen in jüngster Vergangenh­eit. Einer von ihm mit Bürgermeis­terin Claudia Dettmar-Müller (parteilos) erarbeitet­en Erklärung zum Weltfriede­nstag, in der »von den Verbrechen der Wehrmacht und der SS vor unserer Haustür« die Rede sei, habe die Mehrheit im Stadtrat zweimal die Zustimmung verweigert. »Und das explizit unter Verweis auf die Wehrmacht«, sagte Wagner.

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