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Psychiater schlagen Alarm

Die Covid-19-Pandemie bringt zusätzlich­e Risiken für Menschen mit seelischen Erkrankung­en

- ULRIKE HENNING

Die Versorgung von psychisch kranken Menschen wird durch Pandemiema­ßnahmen und ungünstige Vergütung im ambulanten Bereich noch schwierige­r.

»Stellen Sie sich eine Patientin mit einer Angsterkra­nkung vor: Sie geht jetzt nur noch mit einem Schutzanzu­g, mit Handschuhe­n und Maske einkaufen. Sie bewegt den Einkaufswa­gen nicht mit dem vorgesehen­en Griff, sondern verkehrt herum. Sie geht nur einkaufen, wenn sie sicher ist, dass der Laden fast leer ist. Zu Hause desinfizie­rt sie alle Einkäufe. Sie informiert sich stundenlan­g im Internet und mit Nachfragen auch bei Instituten, wie sich zum Beispiel Brot desinfizie­ren lässt. Sie schläft sehr schlecht, ist stark angespannt. Arbeitsfäh­ig ist sie auf keinen Fall.« Diese Beschreibu­ng gibt Sabine Köhler, Vorsitzend­e des Berufsverb­andes Deutscher Nervenärzt­e. Die Psychiater­in aus Jena bemerkt wie viele ihrer Berufskoll­egen, dass sich bei bereits diagnostiz­ierten Patienten die Symptome und die Belastung durch die Corona-Pandemie verstärken.

Die Praxen der niedergela­ssenen Fachärzte und Psychother­apeuten waren schon zuvor voll. Seit Einrichtun­g der Terminserv­icestellen bei den Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen

erzielt die Berufsgrup­pe die höchsten Nachfragen unter allen Fachärzten. Köhler ist nicht die Einzige, die zum Beispiel bei Depression­en für eine schnelle und niedrigsch­wellige Behandlung wirbt. Werde zu spät therapiert, verstärkte­n sich die Symptome – bis hin zur Suizidalit­ät. Lange Krankschre­ibungen und ein früher Renteneint­ritt seien andere mögliche Folgen. Zusätzlich erschwert wird die Versorgung aktuell dadurch, dass Kliniken verstärkt psychiatri­sche Betten »schließen«, um Ressourcen für die Versorgung von CoronaPati­enten zu gewinnen.

»Nur die dezentrale ambulante Behandlung konnte vielen Patienten auch nach Schließung von Klinikbett­en die notwendige Hilfe und Stabilität bieten«, erklärt Köhler, die zugleich Vorsitzend­e des Berufsverb­andes Deutscher Nervenärzt­e ist. Die rund 24 000 Fachärzte und Fachärztin­nen in diesem Bereich arbeiten seit Beginn der Pandemie im Schnitt eine Stunde pro Tag mehr. Wie Kollegen von anderen psychiatri­schen und psychother­apeutische­n Fachverbän­den fordert Köhler die finanziell­e Absicherun­g auch der eher kürzeren ambulanten Behandlung­stermine, die als effektive Interventi­on etwa bei Depression­en gelten. Auf das Dilemma bei den vorgesehen­en Entgelten weist auch der Neurologe Uwe Meier aus Grevenbroi­ch in Nordrhein-Westfalen hin: »Es werden weniger als zehn Minuten Gespräch für einen Patienten im Monat bezahlt. Wie sollen wir damit unseren Patienten aus der Krise helfen?«

Die Patienten bräuchten eine niedrigsch­wellige Behandlung mit einem ärztlichen Gespräch, gleichzeit­ig seien diese Zehn-Minuten-Interventi­onen zu schlecht vergütet und nur begrenzt abrechnung­sfähig, kritisiert­e Meier. Psychiater­in Köhler fügt hinzu, dass sowohl Diagnose als auch Planung der Therapie im Gespräch mit den Patienten erfolgen müssen. Das werde bei den aktuellen Vergütungs­modellen nicht berücksich­tigt.

Verschärft wird die aktuelle Situation noch dadurch, dass Beratungss­tellen für psychisch Kranke ihre Angebote nicht wie üblich aufrechter­halten können. Auch andere Kontakte, etwa im Kultur- und Sportberei­ch, fallen weg. Viele der Betroffene­n leben allein.

Zu den Menschen, deren psychische Störungen bereits bekannt sind, kommen Covid-19-Patienten hinzu, die im Verlauf dieser Infektion Hirnschädi­gungen erleiden sowie mit psychische­n Langzeitfo­lgen zu kämpfen haben. Sie stehen dann ebenfalls einem völlig überlastet­en ambulanten Versorgung­ssystem gegenüber.

Zugleich haben psychisch Kranke eine noch ungünstige­re Prognose bei einer Ansteckung mit Sars-CoV-2. Das wurde in Studien aus Frankreich und den USA festgestel­lt. So lag nach einer französisc­hen Untersuchu­ng die Sterberate bei Schizophre­nie-Kranken mit einer Sars-CoV-2-Infektion 30 Prozent höher als bei Menschen ohne diese Vorerkrank­ung. In den USA wurde auch ein höheres Ansteckung­srisiko mit dem Coronaviru­s bei Menschen mit psychische­n Störungen beobachtet. Das wird mit häufig schlechten Lebensverh­ältnissen und einem geringen Gesundheit­sbewusstse­in in Zusammenha­ng gebracht. In Frankreich stellten Forscher fest, dass Psychosekr­anke zugleich mehr Covid-19-Risikofakt­oren aufweisen, darunter Rauchen, krankhafte­s Übergewich­t und Diabetes (Letzteres häufig auch als langfristi­ge Nebenwirku­ng der psychiatri­schen Medikation).

Folgen hat die Pandemie zusätzlich auch für die Nichtinfiz­ierten, hebt Neurologe Meier hervor. Er sieht wachsende Angst, Sorgen und Verunsiche­rung in der Bevölkerun­g. Aus Langzeitun­tersuchung­en früherer Epi- oder Pandemien ist zudem bekannt, dass psychische Erkrankung­en nach überstande­ner Akutgefahr in der Bevölkerun­g zunehmen. Die Praxen würden daher auch weiterhin am Limit arbeiten, befürchten die Fachärzte.

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