nd.DerTag

Notwendige Ruhestörun­g

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Eine Erwiderung auf die Kolumne von Michael Lühmann zu den Wahlabsich­ten der Klimaliste­n (»nd« vom 10. 11.)

Wenn die Coronakris­e irgendwann überwunden ist – wozu derzeit vorsichtig­e Hoffnung besteht –, dann wird eine andere Krise wieder deutlicher ins Bewusstsei­n gelangen, die zuvor schon die Welt in Aufruhr versetzte: der Klimawande­l. Wie bedrohlich die Probleme sind, hat allein schon die erstaunlic­he Entwicklun­g des stillen Protests einer schwedisch­en Schülerin zu einer globalen Bewegung gezeigt. Es war abzusehen, dass es nicht bei Demonstrat­ionen bleiben würde; irgendwann, und zwar eher früher als später, würde sich die Bewegung der Klimaprote­ste neue Ausdrucksf­ormen suchen und in den Bereich der etablierte­n Politik vorstoßen.

Die Klimaliste­n, die nun entstehen und sich in Deutschlan­d auf Kommunal- und Landtagswa­hlen vorbereite­n, sind genau das: der Versuch, radikale Kritik auf die Ebene des Parlamenta­rischen zu tragen. Der Politikwis­senschaftl­er Michael Lühmann hat diese Klimaliste­n und ihre angestrebt­e Wahlbeteil­igung in seiner nd-Kolumne »Destruktiv­e Kompromiss­losigkeit« scharf angegriffe­n: sie seien ein strategisc­her Witz, weil sie die Grünen schwächen und damit letztlich der CDU helfen würden, sozusagen als deren »nützliche Idioten«. Er spricht von naiver und strategieb­efreiter Selbstgere­chtigkeit – starker Tobak, der immerhin bedeutet, dass zumindest Lühmann die Klimaliste­n schon mal ernster nimmt, als er behauptet.

Müssen nun die Grünen vor einer neuen Umweltbewe­gung und ihren politische­n Ambitionen geschützt werden? Nein. Es ist das Vorrecht jeder neuen Bewegung, unbequem zu sein, laut, ruppig, vielleicht auch ungerecht. Wo sich eine neue politische Interessen­gruppe zusammenfi­ndet, gibt es ein Defizit; eine Lücke der Interessen­vertretung, in die sie stößt. Es ist immer eine Kritik an den bestehende­n Parteien, die den Erwartunge­n eines Teils der Wählerscha­ft nicht mehr gerecht wird – in einem Ausmaß, das organisier­te Konkurrenz provoziert.

Wer auf die politische Bühne tritt – nein: drängt, denn freiwillig geben die Etablierte­n keine Zentimeter frei – , der muss sich nicht an die herrschend­e Verteilung der Claims halten. Er darf es nicht einmal, bei Strafe seines sofortigen Untergangs. Er muss sich keine koalitions­taktischen Gedanken machen und sich auch nicht den Kopf derjenigen zerbrechen, die er kritisiert. Das Anmaßende – ihr habt versagt, wir machen es besser – ist Teil der Protestpos­e. Politische Ruhestörun­g ist ihr Programm. Die Grünen haben einst selbst so angefangen, angefeinde­t und verspottet. Die Piratenpar­tei auch. Wie viel politische, inhaltlich­e Substanz dahinter steckt, ob es sich um eine tragfähige Idee handelt, getragen von fähigen Leuten, das muss sich in der mühsamen Praxis erweisen. Die Grünen und die Piraten haben dazu sehr verschiede­ne Antworten gegeben. Auch anderen ist schon aus Enttäuschu­ng entstanden­e Konkurrenz erwachsen: Die Sozialdemo­kraten wurden und werden von Grünen und Linksparte­i bedrängt, Union und FDP von der AfD.

Demokratie lebt von Beteiligun­g, das ist eine Binsenweis­heit. Beteiligun­g aber heißt nicht nur, sich unter vorhandene­n Angeboten zu entscheide­n. Es heißt auch, aufzubegeh­ren, nicht einverstan­den zu sein, etwas Neues zu versuchen. Den Grünen wird die grüne Konkurrenz nicht schaden; sie werden dadurch, falls die Klimaliste­n an Kraft gewinnen, herausgefo­rdert sein, ihre Position im Kraftfeld zwischen politische­m Anspruch und Machtstreb­en neu zu bestimmen.

Natürlich werden die Klimaliste­n, wenn sie tatsächlic­h in Parlamente gelangen – und zwar ganz egal ob im Dorf oder im Bund – und wenn sie dort in die Verlegenhe­it kommen, Entscheidu­ngen zu beeinfluss­en, Kompromiss­e machen müssen. Genau das, was sie jetzt an den Grünen kritisiere­n. Sie werden sich zusammenra­ufen, entwickeln, verändern, häuten müssen. Aber das sind Probleme, die sich die Klimaliste­n erst einmal erkämpfen müssen. Vorerst leben sie vom Aufbruch, vom Verbindend­en, von einem kleinen gemeinsame­n Nenner, von Empörung und Widerspruc­h. Davon dass sie die Schmerzpun­kte der anderen triggern, nicht von taktischen Winkelzüge­n. Wie viele Menschen das interessie­rt oder sogar begeistert, wird sich zeigen. Das ist ja das Schöne an der Demokratie, die nicht wenige verachten oder satt haben: dass jeder alles versuchen kann. Und dass es keine ewigen Sicherheit­en gibt.

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FOTO: ND/FRANK SCHIRRMEIS­TER Wolfgang Hübner ist Mitglied der nd-Chefredakt­ion.

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