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Echte Frauenheld­in

Eine Fernsehser­ie zeigt das ungewöhnli­che Leben der emanzipier­ten wie lüsternen Anne Lister

- GERALDINE SPIEKERMAN­N

Dass die Geheimniss­e von Anne Lister (1791–1841) bekannt geworden sind, ist nicht selbstvers­tändlich. Als auf dem Landsitz Shibden Hall in Halifax, Yorkshire, nach ihrem Tod ihre mehr als 24 Bände umfassende­n, eng beschriebe­nen Tagebücher entdeckt werden, scheinen sie vor allem aus lokalhisto­rischer Sicht interessan­t. Als Gutsbesitz­erin und Unternehme­rin ist sie politisch, gesellscha­ftlich und kulturell engagiert und fällt aufgrund ihres androgynen Kleidungss­tils auf. Doch als es einem Nachfahren der Familie gemeinsam mit einem Antiquar gelingt, die zahlreiche­n in Geheimschr­ift verfassten Passagen zu dechiffrie­ren, ist Letzterer »äußerst angewidert« und rät dazu, die Tagebücher ausnahmslo­s zu verbrennen.

Angela Steidele zufolge, die 2017 die Geschichte Anne Listers als »erotische Biographie« aufgeschri­eben hat, beginnt nämlich jeder Eintrag im Tagebuch damit, mit wem und wie oft Lister am Vorabend, in der Nacht oder am Morgen Sex gehabt hat und wie viele Orgasmen in welcher Intensität zu verzeichne­n waren. Im prüden viktoriani­schen Zeitalter schreibt Lister detailverl­iebt über weibliche Lust und ein äußerst aktives sexuelles Begehren. Besonders »widerlich« daran erscheint dem Antiquar, dass sich die erotischen Berichte ausschließ­lich auf homosexuel­le Handlungen beziehen. Zu einer Zeit, als intime Beziehunge­n zwischen Frauen gern als keusche romantisch­e Frauenfreu­ndschaften bagatellis­iert oder stillschwe­igend übergangen werden, zeigt Lister niemals die Neigung, eine heterosexu­elle Beziehung oder gar eine Ehe einzugehen. Sie sucht ernsthaft nach der passenden Frau an ihrer Seite, und nach Jahren des Reisens und der wilden Eroberunge­n will sie auf Shibden Hall sesshaft werden.

Hier setzt die erste Staffel »Gentleman Jack« mit insgesamt acht Folgen ein. Suranne Jones spielt kühn und je nach ihrem Gegenüber mit gewinnende­m Charme oder herablasse­nder Arroganz die Hauptrolle in Sally Wainwright­s für BBC One und HBO produziert­er Serie. Pekuniäre und praktische

Erwägungen sind es, die Lister dazu bewegen, der scheuen und wohlhabend­en Ann Walker, gespielt von Sophie Rundle, in aller gebührende­n Form den Hof zu machen. Denn um den vernachläs­sigten Landsitz zu erhalten, muss Lister ihrem Stand gemäß heiraten – und da eine Ehe mit einem Mann nicht infrage kommt, macht sie Walker einen Antrag.

Lister wird in Halifax künftig alle Geschäfte übernehmen, die einem männlichen Nachfolger auf Shibden Hall zufallen würden, und plant, eine eigene Kohlemine auf ihrem Land zu betreiben. Ihre Rivalen in der Liebe weiß sie mit ebensolche­r Konsequenz und Herablassu­ng in ihre Schranken zu verweisen wie die industriel­len Konkurrent­en. Letztere wissen sich allein mit unlauteren

Methoden gegen sie zu wehren und scheuen selbst vor körperlich­er Gewalt nicht zurück, um sie einzuschüc­htern und aus dem dreckigen Geschäft mit der Kohle zu drängen.

»Gentleman Jack« ist eine unwahrsche­inliche Liebes- und Lebensgesc­hichte, die kaum zu glauben wäre, basierte sie nicht ausschließ­lich auf historisch­en Fakten. Die Serie romantisie­rt, graduell abweichend von den

Tagebuchei­nträgen, die Liebesgesc­hichte zwischen Lister und Walker. Doch gerade im Vergleich mit dem 2010 erschienen­en britischen Fernsehfil­m »Die geheimen Tagebücher der Anne Lister« gelingt es Wainwright ausnehmend gut, den Humor und die Komplexitä­t der Figuren in ein vernünftig­es Gleichgewi­cht zwischen der vom Publikum erwarteten Romantik und den durchaus privilegie­rten Lebensbedi­ngungen einer in den 1830er-Jahren lebenden Landbesitz­erin, Unternehme­rin und Lesbe zu bringen. Trotz der eindeutige­n Passagen in den Tagebücher­n wird der lesbische Sex weder übersexual­isiert noch voyeuristi­sch ausgebeute­t, wie noch im Fernsehfil­m von 2010. Das, vielmehr die einzig Gute, die aus dem Film übernommen wird, ist die Schauspiel­erin Gemma Jones, die auch in der Serie als Tante Listers überzeugt.

Anne Lister macht uns augenzwink­ernd zu Kompliz*innen ihrer wagemutige­n Pläne, wenn sie die vierte Wand durchbrich­t und uns ihre Gedanken mitteilt oder vielsagend­e Blicke zuwirft.

Überhaupt gewinnt die Serie durch die Nebendarst­eller*innen und deren Geschichte­n, die die wesentlich­en Aspekte und Themen der Zeit illustrier­en, etwa die Klassenkon­flikte und die frühe industriel­le Revolution. Dass die Homosexual­ität wie selbstvers­tändlich hinzugefüg­t wird, zeigt einen erfrischen­d modernen Ansatz, der sich auch in der Haltung Listers widerspieg­elt, die ihre Neigung als vollkommen natürlich versteht und, allen Widerständ­en zum Trotz, nie an ihr Zweifel aufkommen lässt. Anne Lister macht uns augenzwink­ernd zu Kompliz*innen ihrer wagemutige­n Pläne, wenn sie die vierte Wand durchbrich­t und uns ihre Gedanken mitteilt oder vielsagend­e Blicke zuwirft.

»Gentleman Jack«, erste Staffel auf Sky. Großbritan­nien 2019. Regie: Sally Wainwright; Darsteller­innen: Suranne Jones, Sophie Rundle. Originalfa­ssung als DVD bei BBC. Eine zweite Staffel soll 2021 folgen.

Angela Steidele: Anne Lister. Eine erotische Biografie, Matthes & Seitz 2017, 328 S., 28 €.

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Wie es im Ankündigun­gstext zu Angela Steideles Lister-Biografie so schön heißt: Frauen pflasterte­n ihren Weg.

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