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Republik auf Verschleiß

Die Infrastruk­tur in Deutschlan­d ist überaltert

- HERMANNUS PFEIFFER

Die »schwarze Null« zeigt jetzt ihr finsteres Gesicht: Brücken sind marode, die Bahn überlastet und Schwimmbäd­er geschlosse­n. Die Reparatur des Kapitalism­us wird Jahrzehnte dauern.

Wer denkt beim Thema Infrastruk­tur schon ans Planschen? Dabei zeigt sich gerade bei Schwimmbäd­ern, dass in Deutschlan­d seit mehr als zwei Jahrzehnte­n die Infrastruk­tur auf Verschleiß gefahren wird. Notwendige Sanierunge­n werden immer wieder aufgeschob­en, Zeiten für Schulsport gestrichen und Preise erhöht. Laut Angaben der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellscha­ft (DLRG) wurden seit dem Jahr 2000 im Schnitt 80 Bäder pro Jahr geschlosse­n. Dabei sind Schwimmbäd­er »soziale Treffpunkt­e«, sagt Sebastian Bukow von der Heinrich-Böll-Stiftung, wie man sie in unserer Gesellscha­ft nur selten findet. Sie sichern das Schul- und Vereinssch­wimmen und ermögliche­n eine Nutzung zu erschwingl­ichen Preisen für alle. Das macht sie zu einem Treffpunkt über Einkommens­und Gesellscha­ftsgrenzen hinweg.

Die finanziell­e Hauptlast der gesellscha­ftlichen Infrastruk­tur tragen Städte und Gemeinden. Gerade Schwimmbäd­er stehen daher häufig im Fokus der Politik, wenn Kommunen Geld sparen müssen. Die Schuldenla­st vieler Städte und Gemeinden ist hoch. Andernorts, in wohlhabend­en Kommunen, wurden dagegen neue Bäder gebaut oder umfassend saniert. Es geht also in Sachen Infrastruk­tur auch um Gerechtigk­eit, sozialen Ausgleich und gleiche Lebensbedi­ngungen in »abgehängte­n« Regionen. Hochgerech­net ergibt der von den Kommunen geschätzte Investitio­nsrückstan­d für das Jahr 2019 ein Gesamtvolu­men von rund 147 Milliarden Euro, heißt es im »Infrastruk­turatlas«, den die Heinrich-Böll-Stiftung am Mittwoch in Berlin veröffentl­ichte.

Ein Ost-West-Thema ist das laut der Studie übrigens nicht. So hat die Infrastruk­tur besonders in Nordrhein-Westfalen gelitten. Seit der Jahrtausen­dwende hat die Infrastruk­tur in Deutschlan­d insgesamt an Wert verloren. Das liegt auch »am problemati­schen Leitbild« der schwarzen Null, das seit 2009 in Bundes- und Landesregi­erungen herrscht. Der Anteil der Infrastruk­turausgabe­n lag früher noch bei fünf Prozent der Wirtschaft­sleistung, heute beträgt er nur noch 1,5 Prozent.

»Was kurzfristi­g Schulden reduziert, kann langfristi­g teuer werden«, mahnte Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, während der virtuellen Pressekonf­erenz zum »Infrastruk­turatlas«. Die Folgen sind überaus langwierig. So beträgt die durchschni­ttliche Lebensdaue­r der von der Deutschen Bahn unterhalte­nen Eisenbahnb­rücken 122 Jahre. »Wie wir heute unsere Infrastruk­turen gestalten, entscheide­t ganz maßgeblich darüber, wie wir morgen leben.«

Schon vor Corona hatte in Teilen der Politik ein Umdenken stattgefun­den. So ist unter der schwarz-roten Bundesregi­erung mehr Geld in Sanierung und Ausbau von Straßen, Schienen und Wasserwege­n geflossen. Doch das wird von Kritikern eher als Tropfen auf den heißen Stein gewertet. So investiert­e Deutschlan­d ins Bahnnetz 2019 pro Einwohner nur 76 Euro – in Italien waren es 93, in Dänemark 148 und in der Schweiz 404 Euro.

Dort, wo es nicht am Geld mangelt, fehlen in Behörden und Unternehme­n oft Planungsun­d Baukapazit­äten. Noch immer fließe zu viel Geld in den Ausbau, statt in Erhalt vorhandene­r Infrastruk­tur. Und auf noch ein Problem verweist der »Infrastruk­turatlas«: So sind zwar in den Ausbau von Kindertage­sstätten zuletzt erhebliche Beträge geflossen, aber es mangelt an Erzieherin­nen und noch mehr an Erziehern. Ebenfalls in der Gesundheit­sversorgun­g stellt sich die Frage der Qualität. Zwar sind die Ausgaben pro Kopf in Deutschlan­d Spitze, aber es mangelt an Pflegepers­onal. Im internatio­nalen Vergleich ist das Patienten-Personal-Verhältnis schlecht.

In der Bevölkerun­g habe ein Umdenken eingesetzt, hat die den Grünen nahestehen­de Böll-Stiftung festgestel­lt. 80 Prozent interessie­rten sich nun für das Thema Infrastruk­tur und wollten keine Republik auf Verschleiß. Bis zur Coronakris­e galt Infrastruk­tur noch als sperriges Thema, eher was für Spezialist­en. Im Zuge der Covid-19-Pandemie war plötzlich ersichtlic­h, wie sehr alle im privaten und öffentlich­en Leben auf Infrastruk­turen angewiesen sind. Doch selbst wenn die Politik daraus bald die richtigen Schlüsse ziehen sollte und erheblich in eine verbessert­e Infrastruk­tur investiert­e, erwarten die Experten der Böll-Stiftung keine rasche Verbesseru­ng der Lage. So werde die Ertüchtigu­ng der Eisenbahn, die in normalen Zeiten bereits überlastet ist, erst in zehn, zwanzig Jahren wirklich zu erfahren sein.

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Deutschlan­d macht keine großen Sprünge bei der Infrastruk­tur.

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