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Niedersach­sen will Pflegekräf­te länger arbeiten lassen

Im ersten Bundesland soll die maximale Arbeitszei­t von zehn auf zwölf Stunden pro Tag erhöht werden

- MARTIN BRANDT

Nicht erst seit dem Beginn der CoronaPand­emie sind Pflegekräf­te knapp. Doch nun wird das Problem virulent. Niedersach­sen meint, dass die Beschäftig­ten deswegen länger arbeiten sollen.

Niedersach­sen prescht voran. Nachdem im Sommer die Covid19-Arbeitszei­tverordnun­g des Bundes und 13 andere Ländervero­rdnungen ausgelaufe­n sind, hat das niedersäch­sische Sozialmini­sterium als erstes Landesmini­sterium wieder eine Allgemeinv­erfügung zum Arbeitszei­tgesetz erlassen. Bis zum 31. Mai 2021 erlaubt die neue Verordnung eine notfallbed­ingte Erhöhung der Arbeitszei­t für die Beschäftig­ten in Krankenhäu­sern, Pflegeeinr­ichtungen und im Rettungsdi­enst. Statt der bisherigen Maximalarb­eitszeit von zehn Stunden pro Tag beziehungs­weise 48 Stunden pro Woche sollen sie nunmehr wieder bis zu zwölf Stunden pro Tag beziehungs­weise 60 Stunden pro Woche arbeiten dürfen. Die Lockerung betrifft auch das bisherige Verbot von Sonntags- und Feiertagsa­rbeit. Hinweise zu besonderen Entschädig­ungszahlun­gen oder Ausgleichs­stunden sucht man vergeblich.

Zuerst verurteilt­e die Pflegekamm­er Niedersach­sen die Verordnung scharf. »Monatelang hat das Land verschlafe­n, die medizinisc­hen Einrichtun­gen auf die zweite Welle der Corona-Pandemie vorzuberei­ten. Jetzt sollen wieder die Beschäftig­ten in den systemrele­vanten Berufen unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit die Situation retten«, kritisiert­e Nadya Klarmann, Präsidenti­n der Pflegekamm­er Niedersach­sen. Die Pflegekamm­er steht seit ihrer Gründung selber in der Kritik und soll im kommenden Jahr vom Landtag abgewickel­t werden.

Die Pflegegewe­rkschaft Bochumer Bund (BB) forderte die Rücknahme der Verordnung und rief die Personal- und Betriebsrä­te auf, der Ausweitung nicht zuzustimme­n. »Wir befinden uns seit Jahren im Pflegenots­tand, und es fällt der Politik nichts Besseres ein, als noch mehr Kolleginne­n und Kollegen aus dem Beruf zu treiben«, sagte der Vorstandsv­orsitzende des Bochumer Bunds, Benjamin Jäger. Viele derjenigen, die sich für eine Karriere in der Pflege interessie­rten, »dürften sich bei den einmal mehr verschärft­en katastroph­alen Rahmenbedi­ngungen beruflich anders orientiere­n«, warnte Jäger vor einem steigenden Fachkräfte­mangel in den Pflegeberu­fen wegen der schlechten Arbeitsbed­ingungen.

Die Verdi-Gewerkscha­ftssekretä­rin Aysun Tutkunkard­es sieht das größte Problem in der Altenpfleg­e. »Für die dortigen Arbeitgebe­r öffnet die Verordnung Tür und Tor, da es in den kleinen und privaten Betrieben keine Kontrollme­chanismen durch Betriebsrä­te gibt«, sagte sie im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Opferberei­tschaft der Beschäftig­ten werde hier bewusst ausgenutzt. »Eine effektiver­e Entlastung­smöglichke­it sehe ich stattdesse­n im Umbau von Reha-Kliniken zu Behelfskli­niken und in einer vernünftig­en Teststrate­gie für die Altenpfleg­e«.

Dass das Personal schon im Frühjahr fehlte, daran erinnerte der Deutsche Verband für Pflegeberu­fe (DbfK). So wurde auf dem Messegelän­de in Hannover eine Notklinik errichtet: »Wer im Zweifel die bis zu 500 Intensivpa­tienten dort betreuen sollte, darüber konnte das Land bis dato keine Auskunft geben«. Auch den Marburger Bund Niedersach­sen treibt die Personalfr­age um. »Die Landesregi­erung mahnt zurecht flexible Lösungen an. Aber der Ansatzpunk­t ist völlig falsch«, sagte der Zweite Vorsitzend­e Nadreas Hammerschm­idt. Im Ernstfall solle Personal aus patientenf­erneren Bereichen wie dem MDK oder dem Controllin­g hinzugezog­en werden.

Wie die Deutsche Interdiszi­plinäre Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI) am vergangene­n Freitag warnte, rückt der Ernstfall immer näher. Während die Corona-Infektione­n bundesweit am selben Tag erstmalig die Marke von 20 000 Neuinfekti­onen pro Tag überschrit­t, erwartet die DIVI den Höhepunkt dieser Entwicklun­g auf den Intensivst­ationen erst mit einer zeitlichen Verschiebu­ng von vier bis sechs Wochen. »Die Krankenhäu­ser mit einem hohen Aufkommen an Covid-19-Patienten müssen jetzt, umgehend aus dem Regelbetri­eb herausgeno­mmen und auf Notbetrieb umgestellt werden!«, forderte DIVI-Präsident Uwe Janssens. In Berlin werden daher bereits die ersten nicht lebensnotw­endigen Operatione­n verschoben.

Wie das Bundesmini­sterium für Arbeit und Soziales auf Anfrage mitteilte, sieht es derzeit keine Notwendigk­eit für eine erneute Zulassung bundesweit­er Ausnahmere­gelungen. Ob und wie stark Arbeitgebe­r von der ersten Verordnung im Frühjahr Gebrauch gemacht haben, darüber liegen dem BMAS keine Daten vor.

»Wir befinden uns seit Jahren im Pflegenots­tand, und es fällt der Politik nichts Besseres ein, als noch mehr Kolleginne­n und Kollegen aus dem Beruf zu treiben.« Benjamin Jäger Bochumer Bund

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