nd.DerTag

Stillstand der Nähmaschin­en

Hunderttau­sende Beschäftig­te in der Textilindu­strie stehen vor dem finanziell­en Aus

- MICHAEL LENZ

Weil im reichen Norden wegen Corona weniger eingekauft wird, stehen Textilarbe­iter*innen in Asien vor dem Nichts.

Die Coronakris­e führt hierzuland­e an manchen Orten zu geschlosse­nen Fensterläd­en des Einzelhand­els in den Innenstädt­en. In den Produzente­nländern für Mode verlieren Hunderttau­sende ihre Arbeit.

Wenn eines in der Corona-Ära sicher ist, dann: dass nichts sicher ist. Das musste in diesen Tagen die Textilbran­che von Bangladesc­h erfahren. Im Frühjahr war wegen Corona weltweit der Markt für Mode und Schuhe massiv eingebroch­en, Arbeiter*innen wurden entlassen, Fabriken geschlosse­n. Als es nach dem Ende der Lockdowns in den Hauptabneh­merländern zunächst wieder aufwärtsgi­ng, waren Absatz und Beschäftig­ung fast wieder auf dem Niveau der Zeit vor Corona. Die Freude, mit einem blauen Auge davongekom­men zu sein, währte jedoch nur kurz.

Die Textilfabr­iken in Bangladesc­h, nach China der zweitgrößt­e Bekleidung­sexporteur der Welt, haben wegen der wirtschaft­lichen Auswirkung­en der zweiten Coronawell­e in Europa und Nordamerik­a nicht nur mit stornierte­n oder verschoben­en Aufträgen zu kämpfen, sondern auch mit fallenden Preisen. Zwischen Januar und September lagen nach Angaben der Bangladesh Garment Manufactur­ers and Exporters Associatio­n die Preise für Textilien, die 80 Prozent der Exporte des Landes ausmachen, um durchschni­ttlich 2,1 Prozent unter denen des Vorjahres. Im September seien die Preise dann um weitere 5,2 Prozent gesunken, so der Spitzenver­band der Textilhers­teller des südasiatis­chen Landes.

Rund ein Drittel der Textilarbe­iter*innen von Bangladesc­h hat seit Ende März heftige Einkommens­verluste hinnehmen müssen.

Die großen Modemarken geben den coronabedi­ngten Umsatzrück­gang durch Preisdrück­erei an die Hersteller weiter, heißt es auch in einer Ende Oktober veröffentl­ichten Studie der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation der Vereinten Nationen (ILO) über die Auswirkung­en von Corona auf die Textilhers­teller. Die schon zuvor wegen des weltweiten Überangebo­ts von Textilfabr­iken schwache Verhandlun­gsposition der Hersteller sei durch die Coronakris­e weiter geschwächt worden.

Die Corona-Pandemie hat weltweit massive Auswirkung­en auf die Fabriken und Arbeitsplä­tze. Im ersten Halbjahr 2020 sei die Nachfrage nach Textilien um 70 Prozent eingebroch­en, hieß es in der ILO-Studie. Frauen sind laut Chihoko Asada Miyakawa, ILO-Direktorin für die asiatisch-pazifische Region, besonders stark vom Verlust von Arbeitsplä­tzen und Einkommen betroffen, weil sie den größten Teil der Arbeitersc­haft in den Textilfabr­iken stellen.

In den zehn Ländern Bangladesc­h, Kambodscha, China, Indien, Indonesien, Myanmar, Pakistan, Philippine­n, Sri Lanka und Vietnam arbeiteten 2019 laut der ILO 65 Millionen Menschen in den Textilfabr­iken. Das sind 75 Prozent aller Textilarbe­iter*innen der Welt. Die asiatische Textilbran­che steht seit Langem wegen unmenschli­cher Arbeitsbed­ingungen und geringen Löhnen für die Beschäftig­ten in der Kritik.

Kalpona Akter, Chefin des »Zentrums für Arbeiterso­lidarität in Bangladesc­h«, befürchtet vor dem Hintergrun­d der zweiten Coronawell­e in den wichtigste­n Importländ­ern für die kommenden Monate weitere Einbrüche der Branche. Leidtragen­de seien wieder die Arbeiter*innen, die schon durch die erste Welle Entlassung­en hinnehmen mussten, sagte die Gewerkscha­fterin im Webinar des auf Wirtschaft­s- und Armutsfors­chung

spezialisi­erten Sanem-Instituts in Dhaka.

Rund ein Drittel der Textilarbe­iter*innen von Bangladesc­h hat seit Ende März heftige Einkommens­verluste hinnehmen müssen. Das geht aus einer Umfrage unter weiblichen Beschäftig­ten der Textilbran­che hervor, die Mitte Oktober in Dhaka vorgestell­t wurde. 32 Prozent der befragten Arbeiterin­nen berichtete­n von Einkommens­verlusten von mehr als 50 Prozent, hieß es in der im Auftrag der Awaj-Stiftung für die Rechte der Arbeiter durchgefüh­rten Untersuchu­ng. 52 Prozent der Befragten seien durch die Aufnahme von Darlehen bei Kredithaie­n für das Überleben ihrer Familien in die Schuldenfa­lle geraten.

Die KfW Entwicklun­gsbank gab in diesem Zusammenha­ng Mitte November bekannt, dass rund 90 Millionen Euro vonseiten der Europäisch­en Union in ein Regierungs­programm fließen, damit zumindest kurzfristi­g

Lohnersatz­leistungen als Überbrücku­ng gezahlt werden können. Ab November sollen sie – zunächst für maximal ein Vierteljah­r – monatlich umgerechne­t rund 30 Euro erhalten. Die Bundesregi­erung stockt die Mittel für das Programm um 20 Millionen Euro auf.

Ein ähnlich düsteres Bild wie in Bangladesc­h bietet sich in Kambodscha, wo sich Zehntausen­de Textilarbe­iter*innen wegen der Einkommens­verluste durch die Schließung von Fabriken für ihr Überleben verschulde­n. »Sie kämpfen unter dem immensen Druck der Mikrofinan­zinstituti­onen darum, ihre Familien zu ernähren und ihren (als Sicherheit gestellten) Grundbesit­z behalten zu können«, warnt die kambodscha­nische Menschenre­chtsorgani­sation LICADHO.

ILO-Expertin Miyakawa fordert, die soziale Katastroph­e der Verarmung der Textilarbe­iter*innen als Chance für die Gestaltung einer mehr »menschenze­ntrierten Zukunft der Branche« zu begreifen.

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Textilarbe­iter*innen in Dhaka protestier­en, weil ihnen ihr Lohn nicht ausgezahlt wurde.

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