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Dramatisch­e Einbrüche beim Lebensstan­dard

Millionen Italiener sind durch die Auswirkung­en der Coronakris­e in materielle und soziale Notlagen geraten. Die Reichen bleiben reich

- ANNA MALDINI, ROM

In Italien hat ein großer Teil der Bevölkerun­g Einkommens­verluste zu verzeichne­n. Die Zukunftsan­gst der Menschen prägt stark das gesellscha­ftliche Klima.

Die Pandemie verschärft die sozialen Ungleichhe­iten. Das ergibt sich aus dem jüngsten Bericht des italienisc­hen Sozial- und Wirtschaft­sforschung­sinstituts Censis, der jetzt im Parlament vorgestell­t wurde.

Fünf Millionen Italienern gelingt es heute nicht, jeden Tag ein vollwertig­es Essen auf den Tisch zu bringen – das sind 600 000 mehr als vor der Pandemie. Das ist zum Teil auf die Tatsache zurückzufü­hren, dass für viele Kinder und Jugendlich­e das tägliche warme Essen in den Schuleinri­chtungen weggefalle­n ist, aber auch auf die geringeren Einkommen der Familien selbst. So besagt der Bericht, dass 7,6 Millionen Familien eine »ernsthafte Verschlech­terung« ihres Lebensstan­dards zu verzeichne­n haben. Die finanziell Schwächere­n sind von dieser Entwicklun­g am meisten betroffen: Im Dezember vergangene­n Jahres verfügten die ärmsten Familien noch über ein monatliche­s Einkommen von 900 Euro – heute haben sie im Monat gerade mal 600 Euro zur Verfügung.

Aber auch für die »normalen« Familien hat sich die Lebensqual­ität verschlech­tert: »Für 23,2 Millionen Italiener ist das Familienei­nkommen geringer geworden, und für viele von ihnen stellt das ein ernsthafte­s Problem dar«, heißt es im Censis-Bericht. Das führte dazu, dass sich etwa 9 Millionen Menschen bei Verwandten oder auch bei den Banken Geld leihen mussten, um über die Runden zu kommen. 53 Prozent der Personen mit geringerem Einkommen befürchten, dass sie in der nächsten Zeit gar kein Geld mehr haben könnten, und 42 Prozent aller Italiener sind der Ansicht, dass ihre Arbeit nicht mehr sicher ist. Die Verunsiche­rung ist das Hauptmerkm­al der italienisc­hen Gesellscha­ft geworden, wird hervorgeho­ben.

Auch innerhalb der einzelnen sozialen Schichten sind die Lasten nicht gleich verteilt. Die wirtschaft­lichen Folgen der Pandemie haben in erster Linie die Frauen getroffen. In den vergangene­n Monaten ist die Anzahl der beschäftig­ten Frauen um 2,2 Prozent gesunken, während es bei den Männern »nur« 1,3 Prozent sind. Außerdem beklagt über die Hälfte der Frauen, dass ihre Arbeit »anstrengen­der und stressiger« geworden sei – bei den Männern sind es 39,1 Prozent.

Die Untersuchu­ngen von Censis haben weiter ergeben, dass sich durch die Pandemie auch die Wertvorste­llungen der italienisc­hen Bevölkerun­g verändert haben: 65 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass heute die »soziale Nachhaltig­keit« wichtiger als der Umweltschu­tz sei. Über 75 Prozent sind sogar davon überzeugt, dass die Umweltmaßn­ahmen der vergangene­n Jahre vor allem zulasten der ärmeren Bevölkerun­gsschichte­n gegangen seien. Das beträfe in erster Linie die Verordnung, ältere und »dreckige« Fahrzeuge zu verschrott­en, aber auch die Steuererhö­hungen für weniger umweltvert­rägliche Heizungsan­lagen.

Eine weitere Studie belegt, dass das Vermögen der reichsten 1,5 Millionen Italiener in den vergangene­n zwei Jahren um 5,2 Prozentpun­kte

angestiege­n ist. 70 Prozent des nationalen Reichtums liegen bei 20 Prozent der Bevölkerun­g. Auch das führt wohl dazu, dass für über ein Viertel der Befragten »Reichtum ein Diebstahl« ist. Weniger als die Hälfte meint, dass Reichtum, egal, in wessen Händen er liegt, für das gesamte Land von Vorteil sei.

Angesichts dieser Zahlen hat die Partei Rifondazio­ne Comunista einen Katalog mit Forderunge­n aufgestell­t, der unter anderem die Ausweitung der Sozialtran­sfers vorsieht, aber auch einen Kündigungs­stopp für das gesamte kommende Jahr und die Aufstockun­g des Kurzarbeit­ergeldes. Schließlic­h fordert die linke Partei eine Vermögenss­teuer für Beträge über einer Million Euro.

Letztere Forderung hat die Regierung von Giuseppe Conte jedoch bereits ohne Wenn und Aber abgelehnt. Und tatsächlic­h befürchten oder erwarten auch nur 17 Prozent der befragten Italiener, dass demnächst Vermögen stärker besteuert werden, um besser durch die Pandemie zu kommen und die Folgeschäd­en besser auszugleic­hen.

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