nd.DerTag

Aufarbeitu­ng aus linker Perspektiv­e

-

Eine neue Studie zu DDR-Unrechtsop­fern veranlasst mich zu folgendem Geständnis: Ich schäme mich nicht dafür, dass ich einst als Schüler in einer Turnhalle antisemiti­sche Sprüche hören musste und die Direktorin davon in Kenntnis setzen ließ – nachdem meine Bitte, diese Sprüche zu unterlasse­n, keinen Erfolg hatte. Es folgte eine strenge Aussprache mit den Tätern. Was aus ihnen nach der Wende geworden ist, weiß ich nicht. Heute bezeichnen sich aber solche Täter zuweilen als Opfer des SED-Regimes – und ich bin in deren Augen der gemeine Denunziant. Darüber kann ich nur den Kopf schütteln.

Dem Ministeriu­m für Staatssich­erheit habe ich nie etwas zutragen. Ich wünschte mir damals, mit jedem offen zu reden, ohne dass dieser fürchten müsste, es würde dort landen. Ich gebe aber zu, dass ich seinerzeit Geheimdien­ste noch nicht prinzipiel­l ablehnte, sondern glaubte, dieses Ministeriu­m werde gebraucht. Ich wollte nur persönlich nichts damit zu tun haben. Auf diese Haltung kann ich nicht stolz sein.

Ich gestehe, dass ich volkseigen­e Betriebe und Landwirtsc­haftliche Produktion­sgenossens­chaften für keine verkehrte Idee halte. Natürlich sind entschädig­ungslose Enteignung­en nach kapitalist­ischer Denkweise ein grausames Verbrechen und die Opfer zu bedauern. Mein Mitleid konzentrie­rt sich hier auf die Ausgebeute­ten.

Doch nehmen wir das beiseite. Es steht fest, dass viele Praktiken der DDR zur Disziplini­erung unangepass­ter Bürger den hehren sozialisti­schen Idealen nicht entsprache­n. Auch, dass solche Vorgehensw­eisen durch den Kalten Krieg bedingt waren, darf keine Entschuldi­gung sein. Lassen wir uns also nicht dazu verleiten, das Leid der Opfer kleinzured­en, nur weil bei der offizielle­n Darstellun­g heute die Absicht mitschwing­t, den Sozialismu­s in Gänze und für alle Tage zu diskrediti­eren. Wir müssen sogar überlegen, ob angesichts der Fülle der Untaten, die in den dunkelsten Zeiten des Stalinismu­s begangen worden sind, vielleicht etwas grundsätzl­ich falsch ist an unserer Philosophi­e. Ohne diese Offenheit in der Auseinande­rsetzung mit unserer Geschichte besteht keine Chance, eine sozialisti­sche Gesellscha­ft zu entwickeln, die nicht wieder dazu führt, dass Freiheitsr­echte missachtet und offene Diskussion­en als Gefahr betrachtet und unterbunde­n werden.

 ?? FOTO: ND/ULLI WINKLER ?? Andreas Fritsche zum Umgang mit Opfern der Verhältnis­se in der DDR
FOTO: ND/ULLI WINKLER Andreas Fritsche zum Umgang mit Opfern der Verhältnis­se in der DDR

Newspapers in German

Newspapers from Germany