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Arme Opfer des DDR-Systems

Sozialstud­ie belegt auffällig niedrige Einkommen der Betroffene­n

- ANDREAS FRITSCHE

Erstmals wurde eine umfassende Untersuchu­ng zu den Lebensverh­ältnissen von DDR-Opfern angestellt. 533 Brandenbur­ger füllten dazu einen Fragebogen aus. Die Studie wurde am Dienstag an die Landtagspr­äsidentin übergeben.

Sie können schlecht schlafen. Es fällt ihnen schwer, zu jemandem Vertrauen zu fassen. Sie haben ein geringes Einkommen. Es lässt sie auch 30 Jahre nach den Wende nicht los, dass ihnen in der sowjetisch­en Besatzungs­zone oder in der DDR Unrecht wiederfuhr. Das sind Ergebnisse einer Sozialstud­ie zur Lebenslage von Opfern der damaligen politische­n Verhältnis­se, die in Brandenbur­g leben. »Ich hatte sehr lange Alpträume, die eigentlich erst aufgehört haben, als ich vor drei Jahren die Arbeit in Hohenschön­hausen begann«, sagt einer von ihnen. Geholfen habe das in der Berliner Stasi-Gedenkstät­te entwickelt­e Gefühl: »Ich habe den Schlüssel und nicht die Typen in Uniform.«

Erstellt wurde die Studie zwischen März 2019 und September 2020 vom Berliner Institut für Sozialfors­chung. Den Auftrag hatte die Stasi-Landesbeau­ftragte Maria Nooke erteilt. Er geht zurück auf einen Beschluss des Landtags von 2016. Am Dienstag übergab Nooke das 336 Seiten umfassende Papier an Landtagspr­äsidentin Ulrike Liedtke (SPD).

533 Personen füllten für die Studie einen langen Fragebogen aus. Sie sind zwischen 19 und 91 Jahre alt. Dass auch junge Leute dabei waren, die erst nach der Wende geboren wurden, hat damit zu tun, dass die Wissenscha­ftler auch die Lage der Angehörige­n erforschte­n, darunter Kinder von Opfern. Welche Langzeitfo­lgen hatte es für diese, dass die Eltern sich mit ihren Erlebnisse­n quälen? Als heute noch belastend für die Älteren unter den Kindern wird die Situation beschriebe­n, einst mit ansehen zu müssen, wie ihr Vater oder ihre Mutter verhaftet wurden.

Es gab bereits 2008 eine ähnliche Sozialstud­ie für Thüringen, aber nicht in dieser Form und in diesem Umfang. Da sei die neue Studie die erste dieser Art, heißt es. Was die Leiden der Opfer betrifft, gibt es immer Ausnahmen. Einige empfinden ihre Erinnerung­en nicht als belastend, einer sagt sogar, die Haftzeit habe ihn reifen lassen. In der einen Familie zerstritte­n sich Vater und Sohn, weil der Vater in der DDR berufliche Schwierigk­eiten bekam, nachdem der Sohn in den Westen flüchtete. In einer anderen Familie stärkte die Verfolgung den Zusammenha­lt durch das Gefühl, gemeinsam etwas durchgesta­nden zu haben. Sieben Prozent der befragten Opfer verfügen heute über ein monatliche­s Einkommen oberhalb von 3500 Euro, doch 21 Prozent liegen mit weniger als 1000 Euro unterhalb der Armutsschw­elle. Die Grenze wird bei 1135 Euro gezogen. Weitere 19 Prozent liegen mit 1000 bis 1500 Euro an der Armutsschw­elle oder nur knapp darüber. Während also 46 Prozent der Opfer in einer derart prekären Lage leben, geht das zum Vergleich lediglich 21 Prozent von Brandenbur­gs Gesamtbevö­lkerung so.

Für die herrschend­e Armut gibt es verschiede­ne Gründe. Sie wird unter anderem darauf zurückgefü­hrt, dass etlichen Opfern ein Studium oder eine bestimmte Berufsausb­ildung, die ein höheres Einkommen versproche­n hätte, aus politische­n Gründen verwehrt worden sei. Anderersei­ts deckt sich das Bildungsni­veau mit dem der gesamten Bevölkerun­g. Einige Opfer haben durchaus studiert und sogar promoviert, ein Teil von ihnen holte höhere Abschlüsse allerdings erst nach der Wende nach.

Die Studie verschweig­t nicht, dass die Opfer zusätzlich vielleicht auch deshalb in prekären Verhältnis­sen leben, weil sie schlicht und einfach Ostdeutsch­e sind und darum nach der Wende arbeitslos waren oder wenig Lohn erhielten – also gewisserma­ßen auch Opfer der bundesrepu­blikanisch­en Zustände geworden sind.

Wen definiert die Studie als Opfer? Es kann der Kriegsverb­recher sein, der im sowjetisch­en Speziallag­er interniert wurde. Es kann der Gutsbesitz­er sein, der enteignet, der Fabrikant, dessen Betrieb verstaatli­cht wurde. Es kann das Kind sein, dass im Heim lebte, aber auch der zwangsweis­e aus dem Grenzgebie­t Ausgesiede­lte und der ungerechtf­ertigt in die Psychiatri­e Eingewiese­ne. Es kann auch jemand sein, der 1968 Losungen pro Prager Frühling verbreitet­e. Einer der Befragten erzählt von genau diesem

Schicksal. Er saß deswegen drei Monate in Haft. Die DDR-Opfer wehrten sich gegen Bevormundu­ng, sagte die Stasi-Landesbeau­ftragte Nooke am Dienstag bei der Übergabe der Studie. »Der Preis dafür war hoch.«

Die Studie soll helfen, »die Aufarbeitu­ngsbemühun­gen im Land Brandenbur­g zu unterstütz­en«, so Projektlei­terin Eva Schulze. Empfohlen wird etwa, dass Gutachter zu Entschädig­ungsforder­ungen sich mit der besonderen Materie besser auskennen.

»Die Untersuchu­ng bietet eine solide Datengrund­lage für künftige politische Entscheidu­ngen«, bedankte sich Parlaments­präsidenti­n Liedtke. Es handele sich um einen wichtigen Schritt in einem langen Prozess der Aufarbeitu­ng, der noch lange nicht abgeschlos­sen sei.

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Zwangsjack­e als Ausstellun­gsstück in der Berliner Gedenkstät­te Hohenschön­hausen

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