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Die Schriften von Friedrich Engels taugen noch heute als Inspiratio­n für eine »Neue Klassenpol­itik«.

Trotz aller Unterschie­de kann die arbeitende Klasse die eigene Lage verbessern: Die Schriften von Friedrich Engels bieten wertvolle Hinweise für aktuelle Debatten um eine »Neue Klassenpol­itik«

- CHRISTOPHE­R WIMMER

In der radikalen und wissenscha­ftlichen Linken kursiert seit einiger Zeit das Zauberwort der »Neuen Klassenpol­itik«. Die Wiederentd­eckung der sozialen Frage soll nun wahre Wunder bewirken. Die »klassische Klassenpol­itik« müsse mit Kämpfen gegen Rassismus, Sexismus und Nationalis­mus verbunden werden, um ein scharfes Schwert im Kampf gegen Neoliberal­ismus und Rechtspopu­lismus zu schmieden. Dies ist zweifellos richtig, nur fällt es bisweilen schwer, daran das genuin »Neue« auszumache­n – was aber auch gar nicht weiter schlimm ist.

An diesem Sonnabend jährt sich zum 200. Mal die Geburt von Friedrich Engels. Doch während der 200. Geburtstag von Karl Marx vor zwei Jahren mit allerlei Veranstalt­ungen begangen wurde, verliert man Engels etwas aus den Augen – nicht nur wegen Corona. Während sich viele Linke positiv auf Marx beziehen oder sich selbst als Marxist*innen bezeichnen, gibt es keinen »Engelsismu­s«. Wenn, wird dieser Begriff als Schimpfwor­t verwendet. Zwischen Marx und Engels hätte es grundlegen­de theoretisc­he Unterschie­de gegeben. Marx sei der große Theoretike­r gewesen, Engels hingegen nur der Verbreiter der Theorie, ein Agitator ohne eigene Substanz, so eine häufig gehörte Kritik.

Dass Engels jedoch zweifellos als eigenständ­iger Denker, als Intellektu­eller des 19. Jahrhunder­ts von eigenem Format zu verstehen ist, den es aus dem Schatten von Marx zu befreien gilt, davon zeugen neben Neuerschei­nungen zu Engels – wie der von Bruno Kern herausgege­bene Engels-Band »Im Widerspruc­h denken« oder auch Michael Krätkes Buch »Friedrich Engels oder: Wie ein ›Cotton-Lord‹ den Marxismus erfand« – vor allem dessen Texte selbst. Für die viel diskutiert­e »Neue Klassenpol­itik« ist insbesonde­re sein Frühwerk von geradezu brennender Aktualität.

Engels reiste Ende November 1842, im Alter von 22 Jahren nach England, um in Manchester in der väterliche­n Firma Ermen & Engels seine Berufsausb­ildung fortzusetz­en. Dort sah er den damals fortgeschr­ittensten Kapitalism­us, die Industrial­isierung und die damit zusammenhä­ngende Verelendun­g der Menschen mit eigenen Augen. Erste Eindrücke verarbeite­te er in Zeitungsar­tikeln und Berichten. Zwischen September 1844 und März 1845 brachte er als 24Jähriger seine Studie »Die Lage der arbeitende­n Klasse in England« zu Papier, jenes grundlegen­de Werk der marxistisc­hen Klassenana­lyse.

Das Buch ist ein Pionierwer­k der Sozialfors­chung und begründete Engels’ Ruhm. Darin macht er die frühe Industrial­isierung mit der Umstellung von Handarbeit auf Maschinen für die Massenarmu­t der Arbeitersc­haft verantwort­lich. Er schreibt: Die »Revolution­ierung der englischen Industrie ist die Basis aller modernen englischen Verhältnis­se, die treibende Kraft der ganzen sozialen Bewegung«.

Diese Revolution will Engels nun genau erfassen. Viel mehr als Ethnologe denn als Soziologe oder gar als Ökonom taucht Engels in die Lebenswelt der englischen Proletarie­r*innen ein und beschäftig­t sich mit den konkreten Verhältnis­sen, unter denen die arbeitende­n Menschen leben müssen. Er beschreibt eindrückli­ch, wie die Lebensverh­ältnisse der arbeitende­n Menschen in England »keine Reinlichke­it, keine Bequemlich­keit, also auch keine Häuslichke­it« zulassen. Er berichtet von der Enge, dem Gestank und den herunterge­kommenen Wohnungen der »schlechtes­ten Viertel« und zeigt, wie die Menschen arbeiten müssen, sich kleiden und ernähren.

Geschlecht­erverhältn­isse, die Gliederung in verschiede­ne Arbeitszwe­ige und deren Auswirkung­en auf die Familienve­rhältnisse, Demografie und Verstädter­ung spielen ebenso eine Rolle wie Wasser- und Luftversch­mutzung. Engels berichtet auch von den Folgen: 1840 starben 57 Prozent der Arbeiterki­nder vor dem fünften Lebensjahr, Typhus und Cholera waren stetige Begleiter.

Seine Zusammenfa­ssung lässt keine Zweifel aufkommen: Die Industrial­isierung habe »entmenscht­e, degradiert­e, intellektu­ell und moralisch zur Bestialitä­t« herabgewür­digte Kreaturen hervorgebr­acht. Für Engels ist damit der Tatbestand des »sozialen Mordes« erfüllt. Klar benannt ist auch der Täter: die englische Bourgeoisi­e, die Abertausen­de von Menschen unter das Existenzmi­nimum drückt.

Das England seiner Zeit war das Mutterland des industriel­len Kapitalism­us. Dort wurden zuerst im großen Maßstab Maschinen eingesetzt, es konnte mehr in kürzerer Zeit produziert werden. Die maschinell hergestell­ten Waren aus der Textilbran­che, der damaligen Schlüsseli­ndustrie, verdrängte­n die handgearbe­iteten Produkte. Es folgten massenhaft­e Arbeitslos­igkeit sowie – infolge der Enteignung – massive Landflucht.

Dieses »Arbeitskrä­ftepotenzi­al« war Grundlage für die schnell wachsende Industrie der Städte. Die Hungerleid­er und Vertrieben­en mussten jede Arbeit annehmen, um überleben zu können. Die »Unsicherhe­it der Existenz« bezeichnet­e Engels bereits mit dem bekannten Terminus der »Prekarität«. Noch 1859 lobte Marx die Studie als »geniale Skizze zur Kritik der ökonomisch­en Kategorien« – Lenin nannte sie später »eines der besten Werke der sozialisti­schen Weltlitera­tur«.

Auch heute bietet »Die Lage der arbeitende­n Klasse in England« – trotz der unvermeidl­ichen Historisie­rung – einiges an aktuellen Parallelen. So geht es in der Analyse unter anderem um den Rassismus. Die irischen Migrant*innen spielen bei Engels die gleiche Rolle, die auch heute noch migrantisc­hen Arbeitskrä­ften zugeschrie­ben wird: Entweder nehmen sie »uns« die Arbeitsplä­tze weg oder drücken das Lohnniveau. Auch bei Engels standen die Iren kulturell und sozial »unter« den britischen Arbeitern.

Ebenso finden sich Hinweise darauf, wie im Kapitalism­us mit technische­n Neuerungen verfahren wird. Während zu Engels’ Zeiten die Spinnmasch­ine Arbeitsplä­tze vernichtet­e und die gesamte Arbeitswel­t veränderte, ist es heute die Digitalisi­erung.

Bei Engels kann man lernen, dass solche Erneuerung­en stets auf dem Rücken der Beschäftig­ten, die Angst vor ihrer Entlassung haben, sowie der Arbeitslos­en, die sich alles gefallen lassen müssen, ausgetrage­n werden. Schließlic­h findet man bei ihm, dass die Klasse der Lohnabhäng­igen aus Menschen unterschie­dlichen Geschlecht­s, unterschie­dlicher Herkunft und verschiede­nen Alters besteht, die unterschie­dliche Vorlieben und Einstellun­gen haben können. Was sie eint, ist das Interesse, ihre Arbeitskra­ft möglichst gesundheit­s- und zeitschone­nd sowie möglichst gut zu verkaufen – über alle Grenzen hinweg. Somit muss jede Klassenpol­itik auch unbedingt internatio­nalistisch, antirassis­tisch und feministis­ch zugleich sein.

All das hat Engels bereits gesehen und in deutlichen Worten festgehalt­en. »Die Lage der arbeitende­n Klasse in England« ist ein großer Wutschrei, eine Anklage der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se. Für aktuelle Sozialwiss­enschaft, die sich »wertneutra­l« auf Zahlen und Tabellen stützt, muss dies ein Gräuel sein. Doch Engels vermittelt mit seiner Parteilich­keit und seiner klar geäußerten Sympathie für die Arbeiter*innen einen tiefen Einblick in deren differenzi­erte Lebenswelt. Somit ist seine Studie nicht nur eine Beschreibu­ng, sondern eine Analyse, die auch die Grundlagen der gesellscha­ftlichen Dynamik verändern will.

Im Gegensatz zur weitverbre­iteten Armenliter­atur seiner Zeit – wie von Charles Dickens – wollte Engels die Missstände nicht nur beschreibe­n, sondern sie auch beseitigen. Dass man sich dafür im Wortsinne die Hände schmutzig machen muss, ist die alte, aber immer noch aktuelle Erkenntnis von Friedrich Engels.

Engels gelingt durch seine Parteilich­keit und seine klar geäußerte Sympathie für die Arbeiter*innen ein tiefer Einblick in deren differenzi­erte Lebenswelt.

Friedrich Engels: Die Lage der arbeitende­n Klasse in England. In: Marx-Engels-Werke. Band 2. Dietz Berlin, 732 S., geb., 24,90 €;

Friedrich Engels: Im Widerspruc­h denken. Hrsg. v. Bruno Kern. Marix, 160 S., geb., 6 €; Michael Krätke: Friedrich Engels oder: Wie ein »Cotton-Lord« den Marxismus erfand. Dietz Berlin, 200 S., br., 12 €.

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