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Wieder liegen geblieben

Der Wanderzirk­us Salino ist ständig auf einer Odyssee – aber diesmal bestimmt er nicht, wohin die Reise geht

- STEFAN OTTO

Ein Zirkusarti­st ohne Manege fristet ein ödes Dasein am Rande der Stadt. Zweimal ist Zirkus Salino in den letzten Monaten schon gestrandet. Langsam wird die Situation bedrohlich.

Drei Männer spielen auf dem Schotterpl­atz Fußball. Übermütig wie herumtolle­nde Kinder. Dustin Urban, ein Muskelprot­z, nimmt den signalfarb­enen Ball in die Hand und schießt ihn in die Höhe, zehn Meter kerzengera­de nach oben, vielleicht auch zwölf. Dann steigen die drei in einen schwarzen Mercedes mit Auricher Kennzeiche­n und fahren los. Ihre Mutter bleibt zurück im Wohnwagen. Carola Urban passt auf ihre blinde Nichte auf, die einen Säugling auf dem Schoß hat. »Die Jungs holen Futter. Jetzt ist keiner mehr da.« Draußen auf dem verwaisten Gelände kläfft ein halbes Dutzend Hunde.

Der Zirkus Salino war auf dem Schützenpl­atz in Duderstadt am südlichen Harzvorlan­d gestrandet, als gerade der Frühling begann. Jetzt ist es Anfang September, und er hat sein Quartier noch immer auf dem geschotter­ten Platz am Ortsrand. Die Stadtverwa­ltung hat der 13-köpfigen Familie erlaubt zu bleiben. In den offenen Stallzelte­n dösen Kamele, Lamas und Pferde. Etwas weiter stehen Wohnwagen.

Herzstück des Quartiers mit den cremefarbe­nen Trailern ist der geräumige Küchenwage­n. Carola Urban schenkt Cola ein und erzählt von den anfallende­n Arbeiten beim Zirkus. »Zu tun gibt es immer genug. Auch wenn wir keine Aufführung­en haben. Der Fuhrpark muss gewartet werden und die Tiere versorgt sein. Alle müssen mit anpacken.« Natürlich trainieren ihre Kinder, die Artisten, weiter. »Jonglieren brauchen sie nicht mehr groß üben. Das ist wie Fahrradfah­ren, das verlernst du nicht«, sagt sie. »Aber sie müssen fit bleiben und sich weich machen.« Sie wird vom Telefon unterbroch­en und erklärt dem Anrufer etwas barsch, dass sie gerade keine Zeit habe. Carola Urban ist eine energische Person, Mitte fünfzig, die den Familienzi­rkus beisammen hält. Bei den Aufführung­en führt sie durch die Show und kündigt die Artisten an.

Bürgermeis­ter als Ratgeber

Thorsten Feike blättert im Kalender. Er weiß noch, wie der Zirkus im März von einem Tag auf den anderen keine Aufführung­en mehr geben durfte. »Die Urbans hatten schon 600 Euro für die Platzmiete bezahlt und 750 Euro Kaution hinterlegt. Da haben wir beschlosse­n, ihnen die Gelder zu erstatten.« Der Bürgermeis­ter von Duderstadt erinnert sich, wie er mit der Zirkusfami­lie zusammenge­sessen hat und sie gemeinsam überlegten, wie sie mit der Notlage umgehen könnten. »Natürlich dürfen wir nicht einfach Geld fließen lassen. Aber wir gaben ihnen Tipps. Dass die Artisten sich beispielsw­eise arbeitslos melden konnten, um staatliche Hilfe zu bekommen.«

In der Stadt gab es viel Unterstütz­ung für den Zirkus. Landwirte brachten Heu für die Tiere vorbei, Vereine spendeten. Auch der Ortsverban­d der Liberalen, Feikes Partei, überreicht­e eine Spende, damit Futter gekauft werden konnte. »Viele Duderstädt­er haben den Zirkus als Dauergast positiv aufgenomme­n«, meint der Bürgermeis­ter. Nur wenige hätten gefragt, wie lange der Wanderzirk­us denn noch auf dem Schützenpl­atz campieren würde.

Die Auftritte im Sommer waren an einer Hand abzuzählen. Der Zirkus trat auf der Dachterras­se eines Pflegeheim­s auf und gab ein Gastspiel bei der Heinz-Sielmann-Stiftung auf dem Gut Herbigshag­en. Den Urbans tat es gut, ein Lebenszeic­hen von sich zu geben. »Da hatten wir endlich mal wieder das Gefühl, vor einem Publikum zu spielen«, erzählt Carola Urban. Auch wenn das nur wenig Geld eingebrach­t habe. »Natürlich haben wir immer wieder geschaut, wann wir wieder losdürfen.« Aber die vielen unterschie­dlichen Hygienereg­eln und Verbote machten das lange unmöglich. Also nutzten die Artisten die Zeit, um an einem neuen Programm zu arbeiten. Sie haben das Stahlgerüs­t des großen Zelts aufgebaut und auf einer schmalen Hochebene eine Nummer eingeübt.

Nur wenige staatliche Hilfen

Wanderzirk­usse tingeln gewöhnlich neun oder zehn Monate im Jahr durch die Gegend. Nicht alle sind so groß und berühmt wie der Zirkus Krone oder der zeitgenöss­ische Flic Flac. Unter den rund 300 Wanderzirk­ussen gibt es viele kleinere wie den der Familie Urban. Sie alle machen die künstleris­che Vielfalt der Zirkusland­schaft aus, darüber besteht eigentlich kein Zweifel. »Aber Zirkusse müssen kämpfen, um als Kultur anerkannt zu werden«, erzählt Sophia-Marie Luftenstei­ner von der Bundesarbe­itsgemeins­chaft Zirkuspäda­gogik. »Offiziell fallen sie nämlich unter das Reisegewer­be.« Über ihren Verein können sie aber dennoch staatliche Coronahilf­en aus dem Fonds Neustart Kultur bekommen. »Allerdings nur für pandemiebe­dingte Investitio­nen. Darunter fallen bei einem Zirkus, der häufig hölzerne Sitzbänke hat, wenn er eine neue Bestuhlung anschafft oder Schutzsche­iben braucht.« Das Programm ist für all jene Anschaffun­gen, die für die Einhaltung von Hygienereg­eln wichtig sind.

Fünf Millionen Euro stehen Zirkussen dafür zur Verfügung. Allerdings dürfen neben den klassische­n Wanderzirk­ussen auch zirkuspäda­gogische Projekte und zeitgenöss­ische Zirkusunte­rnehmen, die schauspiel­erische Elemente in die Akrobatik einfließen lassen, Mittel beantragen. »Von den bisher rund 150 Anträgen entfallen rund 40 Prozent auf Wanderzirk­usse«, erzählt Luftenstei­ner. Damit hat gerade einmal jeder fünfte reisende Zirkus von der Hilfe des Bundes Gebrauch gemacht. Eine andere staatliche Unterstütz­ung gibt es derzeit nicht.

Auch für den Zirkus Salino ist das nicht die Förderung, die er benötigt. Dabei ist dies für das Familienun­ternehmen die größte Krise überhaupt. »Viel schlimmer noch als in den 90er-Jahren, als die Computersp­iele aufkamen und Zirkus sehr an Popularitä­t verloren hatte«, meint Carola Urban. »Das hat sich aber irgendwann wieder eingerenkt. Doch jetzt wird es langsam kritisch.« Was das konkret bedeutet, verrät sie nicht. Ans Aufgeben denkt sie aber nicht, das steht außer Frage. Schließlic­h ist der Zirkus ihr Leben.

Carola Urban ist beim Zirkus Atlantik aufgewachs­en. Seit vier Generation­en gibt es ihren Zirkus bereits. »Angefangen hat alles mit dem Uropa«, erzählt sie, »der ist mit Bären umhergezog­en und hat Stelzentan­z gemacht.« Ihr Mann Frantisek ist ein Handstanda­krobat aus Prag, der vor Jahrzehnte­n von ihrer Familie engagiert wurde. »Vor zwölf Jahren haben wir uns mit einem eigenen Programm selbststän­dig gemacht.« Als kleiner Wanderzirk­us suchen die Urbans die

Nähe zu den Kindern. »Solange es Kinder gibt, wird es auch uns geben«, sagt sie etwas trotzig.

Ein Hoffnungss­chimmer

Am 27. September ist es endlich soweit; der Zirkus kann weiterzieh­en. »Wir haben noch eine Gratis-Veranstalt­ung gegeben, um uns bei den Duderstädt­ern zu bedanken«, erzählt Carola Urban im Oktober am Telefon. Erst gastiert der Zirkus im niedersäch­sischen Nordheim, dann zieht er weiter in den Göttinger Vorort Rosdorf. Irgendwo fernab der Zentren, das sind typische Orte, an denen sich Zirkusse für ein Gastspiel niederlass­en. Die Aufführung am Samstagnac­hmittag ist nur mäßig besucht. Drei Dutzend Besucher verlieren sich im Rund, es sind fast nur Eltern mit ihren Kindern gekommen. Eigentlich sind das zu wenige. »Wir brauchen etwa 100 Leute pro Aufführung, dann lohnt es sich«, sagt Carola Urban. Aber den Kindern, die auf Plastikstü­hlen in der Loge sitzen und staunen, ist das egal. Ihren Applaus saugen die Artisten auf.

In der Pause können die Kinder für zwei Euro zu den Tieren. Futtertüte gibt‘s extra für einen weiteren Euro. Für zwanzig Minuten wird der Zirkus zum Streichelz­oo. Zeit für Jessie Urban, der während der Aufführung die Rolle des Zirkusdire­ktors einnimmt, hinter dem Zelt eine zu rauchen. »Der Regen hat uns gestern überrascht«, sagt er, und zeigt auf die matschige Wiese. Sein schwarzer Frack ist fast bis zu den Knien vollgespri­tzt. So ist das Leben im Wanderzirk­us; widrige Umstände sind ganz nah beim Glanz und der Zauberei. Jessie Urbans Schlusswor­te sind dann auch voller Pathos. Er redet vom Schweiß und der Arbeit, die einen Zirkus mitsamt der Illusion und der Magie erst ermögliche­n.

Nach der Vorstellun­g herrscht draußen auf dem Festplatz wieder eher triste Realität. »Wir müssen schon gleich mit dem Abbau anfangen«, erzählt die Seiltänzer­in Michelle Sperlich. Dabei findet am Sonntag noch eine letzte Vorstellun­g in Rosdorf statt. »Nur das Notwendige lassen wir noch hier. Sonst schaffen wir den Umzug nach Hannover nicht pünktlich«, erklärt sie. So machten sie es immer. Fast scheint es, als wären sie wieder in die Routine gekommen. Dabei ist die Zahl der Corona-Infizierte­n Ende Oktober längst wieder angestiege­n, und die Zuschauer bleiben weg. »Wir leben mittlerwei­le von unseren Reserven, die wir uns eigentlich für den Winter angelegt haben«, merkt die Seiltänzer­in an.

Die Hoffnungen liegen ganz auf dem Gastspiel in Hannover, einer der Lieblingso­rte von Carola Urban. Doch schon drei Tagen später kommt die Gewissheit: Sie dürfen nicht weitermach­en. Wieder sind sie gestrandet, und es ist völlig ungewiss, wann es weitergeht. »Wir warten darauf, was die Politik beschließt«, sagt Carola Urban am Telefon kurz angebunden. »Solange können wir nichts machen.«

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In Rosdorf war das Zirkuszelt zuletzt aufgebaut. Das war Ende Oktober. Wann die nächste Vorstellun­g sein wird, ist ungewiss.
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Arbeit mit Pferden in Duderstadt

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