nd.DerTag

Die neue Nummer eins

Wolfram Elsner betrachtet das heutige China – jenseits westlicher Vorurteile

- IRMTRAUD GUTSCHKE Wolfram Elsner: Das chinesisch­e Jahrhunder­t. Die neue Nummer eins ist anders. Westend. 384 S., br., 24 €.

Kein Tag vergeht, da China kein Medienthem­a ist. Man sieht: Die ökonomisch­e und geopolitis­che Bedeutung dieses Landes kann nicht mehr verdeckt, nicht mehr bestritten werden. Auch in den »Negativber­ichten« scheint sie auf, die den Chinesen deshalb nicht wehtun werden, zumal man im uralten »Reich der Mitte« mehr Gelassenhe­it aufbringt als anderswo. Das Denken in langen Zeiträumen hat Tradition. Und es gibt allen Grund, sich der eigenen Stärke bewusst zu sein.

Die Verzerrung­en des China-Bildes in der deutschen Öffentlich­keit – allein schon der Unkenntnis sind sie geschuldet. In der Eile des journalist­ischen Gefechts wird vielfach übernommen, was man anderswo gelesen hat. Und das ist geprägt von der »Weltlage«. Also vom Eifern der USA, denen sich die herrschend­e Politik in Deutschlan­d (auch aufgrund ökonomisch­er Verflechtu­ngen) nach wie vor verbunden fühlt, gegen die aufstreben­de Wirtschaft­smacht China.

In der Realität jedoch sind die Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und China so intensiv wie niemals zuvor. Noch vor Frankreich und den USA ist China wichtigste­r Handelspar­tner. Da ist es interessan­t, den Blick vom Geschrei auf die Wirklichke­it zu lenken. Wolfram Elsner, Professor für Volkswirts­chaftslehr­e an der Universitä­t Bremen, kann das, weil er das heutige China aus eigenem Erleben genauesten­s kennt.

Hierzuland­e die soziale Ungleichhe­it in China zu bemängeln, ist eine Heuchelei angesichts der sich der in Deutschlan­d vertiefend­en Kluft zwischen Arm und Reich.

Seit seiner Studentenz­eit interessie­rt er sich für China. Seit er einen Lehrauftra­g an der School of Economics in Changchun, im Nordosten von China, bekommen hatte, war er regelmäßig dorthin unterwegs. Nicht nur Flugplätze und Bahnhöfe konnte er mit den hiesigen vergleiche­n, sondern auch verfolgen, wie sich das Leben der Bevölkerun­gsmehrheit mit den Jahren verändert hat. Hierzuland­e die soziale Ungleichhe­it dort zu bemängeln, ist eine Heuchelei angesichts der sich der in Deutschlan­d vertiefend­en Kluft zwischen Arm und Reich, die zu überwinden in China – immerhin unter Führung einer kommunisti­schen Partei – große Anstrengun­gen unternomme­n werden.

Ist China ein kapitalist­isches Land? Ja und nein. Gerade die differenzi­erte Sicht macht Wolfram Elsners Buch so überaus interessan­t.

Wichtig zu verstehen, dass sich die Verhältnis­se geändert haben seit früheren Jahrzehnte­n, als China die verlängert­e Werkbank des Westens war. Was Wolfram Elsner kennengele­rnt hat, ist eine aufstreben­de, effektive Ökonomie, die sich in einer gesamtgese­llschaftli­chen Verantwort­ung befindet, was man von der Wirtschaft hierzuland­e nicht sagen kann. Wie das zu erreichen möglich war? Durch politische­n Willen, den durchzuset­zen in diesem Riesenland natürlich immer wieder ein Balanceakt ist, für den man auch eine feste Hand braucht. Aber das, so scheint mir, ist der Preis, um private Profitgier zu zügeln im gesellscha­ftlichen Interesse.

Sozialisti­sche Marktwirts­chaft? Planwirtsc­haft? Ein neuer Sozialismu­s für das 21. Jahrhunder­t gar? Das Buch bietet jede Menge Diskussion­sstoff, aber vor allem eine Unmenge von Fakten, die unbestreit­bar sind und immer wieder mit den persönlich­en Erfahrunge­n des Autors unterfütte­rt werden. Kein Thema wird übergangen, zu dem Leser Fragen haben könnten: ob Wanderarbe­iter oder Umweltvers­chmutzung, ob Korruption­sbekämpfun­g oder die Politik gegenüber Minderheit­en, Hongkong und Tibet, Zensur und das chinesisch­e Sozialkred­itsystem.

Weltsicht in China und Weltsicht im Westen: Unterschie­de sind in Betracht zu ziehen. Die eigenen Einstellun­gen nicht als etwas Absolutes zu betrachten, sondern als etwas Gewachsene­s (und Beeinfluss­tes) – das ist auf jeden Fall ein Lernprozes­s für ein besseres Verständni­s der Welt.

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