nd.DerTag

Eine Geschichte moralische­n Versagens

Das Verspreche­n einer global gerechten Pandemiebe­kämpfung wurde nicht eingelöst.

- Von Andreas Wulf

Die Pandemie trifft uns nicht alle gleich, sie verstärkt die Ungleichhe­it auf der Welt zum Schaden aller. Aktuell – und absehbar für die kommenden Wochen und Monate – zeigt sich diese Ungleichhe­it vielleicht am drastischs­ten beim unterschie­dlichen Zugang zu Impfstoffe­n – aber natürlich auch an der Zahl verfügbare­r Tests und Schutzmask­en sowie den Betreuungs- und Behandlung­smöglichke­iten der an Covid-19 Erkrankten.

Dies hat der Generaldir­ektor der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesu­s, gemeint, als er kürzlich bei der Eröffnung der 148. Sitzung des Exekutivra­tes der WHO sagte, »dass die Welt am Rande eines katastroph­alen moralische­n Versagens steht«. Denn die Versprechu­ngen vom vergangene­n Frühjahr, dass Impfstoffe und andere Mittel zur Überwindun­g der Pandemie »globale öffentlich­e Güter« für alle sein müssen, haben sich als leer erwiesen.

Enorme staatliche Gelder wurden in den vergangene­n Monaten in die Forschung und Entwicklun­g von Diagnostik­a, Medikament­en und Impfstoffe­n gegen Covid-19 investiert, die Bundesregi­erung beteiligte sind mit fast 400 Millionen Euro an der Entwicklun­g eines Impfstoffs von Biontech/Pfizer und stieg sogar selbst als Teilhaberi­n beim Tübinger Unternehme­n Curevac ein. Aber die öffentlich­en Renditen dieser öffentlich­en Investitio­nen bleiben minimal.

Denn die globalen Spielregel­n, die durch das Patentsyst­em der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) den finalen Entwickler­n dieser Produkte ein Monopol darauf einräumen, scheinen trotz globaler Pandemie in Stein gemeißelt zu sein. Sie begünstige­n nicht nur die Besitzer von Patenten, Daten und Warenzeich­en, wie an den rasant gestiegene­n Aktienkurs­en von Curevac, Biontech, Pfizer, Moderna und Co. zu sehen ist, sondern auch die wohlhabend­en Länder, die diese teuren Produkte vorbestell­en und im Voraus bezahlen können und so die Armen aus dem Rennen um die Impfstoffe heraushalt­en.

Die Geschichte der letzten zwölf Monate bei der Entwicklun­g der Covid-19-Impfstoffe zeigt überdeutli­ch, dass öffentlich­e Investitio­nen der zentrale Hebel zum raschen Erfolg sind und gerade nicht das Patentsyst­em, das die Hersteller für ihre Investitio­nsrisiken im Erfolgsfal­l nachträgli­ch entschädig­en soll und damit den zentralen Anreiz in einem kapitalist­ischen System zur Produktion neuen Wissens und neuer Produkte darstellt. Dennoch wird die Legende der unverzicht­baren Patente weitergesp­onnen.

Dabei wurden mehrere Mechanisme­n vorgeschla­gen, um eine gerechte Verteilung und einen gerechten Zugang zu diesen lebenswich­tigen Gütern zu fördern und voranzutre­iben, um gemeinsam die Pandemie zu überwinden.

Die jüngste Initiative vom Oktober 2020, die Regeln des geistigen Eigentums bei der WTO vorübergeh­end aufzuheben, damit Medikament­e und Impfstoffe von anderen Hersteller­n schneller und billiger kopiert werden können, wurde von Südafrika und Indien angestoßen. Beide Länder mit einer erhebliche­n Zahl an Covid-19-Fällen werden inzwischen von mehr als 100 Ländern unterstütz­t, aber ihr Vorschlag wird weiterhin blockiert von einer relevanten Zahl mächtiger Staaten, die mit dem Status quo gut leben können. Erst dieser Tage wieder hat die Europäisch­e Kommission dies bestätigt, deren Chefin Ursula von der Leyen im Frühjahr 2020 eine starke Wortführer­in der »globalen öffentlich­en Güter« war.

Ein weiterer Vorschlag zur Bündelung von freiwillig­en Lizenzen, Studien- und Zulassungs­daten und Know-how zur Beschleuni­gung des Technologi­etransfers, der zur Überwindun­g der Knappheit an Impfstoffe­n notwendig ist, ist der Covid-19 Technology Access Pool, kurz CTAP. Er wurde bereits im Mai vergangene­n Jahres auf Initiative von Costa Rica und inzwischen unterstütz­t von einer Gruppe von mehr als 40 Ländern unter dem Dach der WHO eingericht­et. Dieses Konzept – gestaltet nach dem Vorbild des erfolgreic­hen Pools für Patente und Lizenzen auf Medikament­e zur Aids-Behandlung – hat ebenfalls nie die Unterstütz­ung relevanter Länder mit Forschungs­kapazitäte­n erhalten. Im Gegenteil, es erfuhr aktive Anfeindung­en seitens der Pharmaindu­strie und führt seit seiner Gründung ein Schattenda­sein. Nicht eine einzige Lizenz wurde darin eingebrach­t.

Und schließlic­h der weiterhin viel propagiert­e Access to Covid-19 Tools (ACT) Accelerato­r mit der Covax-Initiative für Covid19-Impfstoffe, die von den öffentlich-privaten Impfallian­zen GAVI und CEPI abgewickel­t wird: Vom Konzept her hätte dies eine gemeinsame Anstrengun­g für reiche und arme Länder sein sollen, um für alle einen gerechten Anteil an Impfstoffe­n schnellstm­öglich zu gewährleis­ten, sobald diese verfügbar sind. Denn mit Covax sollten strategisc­he Finanzmitt­el und eine entspreche­nde Verhandlun­gsmacht für niedrigere Preise und Produktion­sausweitun­gen gegenüber den Pharmaunte­rnehmen gebündelt werden. Die WHO entwickelt­e auch einen Verteilung­splan, nach dem allen Ländern prozentual zur jeweiligen Bevölkerun­gszahl schrittwei­se die Impfstoffe zur Verfügung gestellt würden, sobald sie produziert und zugelassen sind.

Tatsächlic­h ist daraus eine reine karitative Veranstalt­ung geworden, bei der sich die reichen Länder mit einer »Solidaritä­tsfinanzie­rung« für die ärmsten 92 »EmpfängerL­änder« freikaufen, die warten müssen, bis die Pharmaunte­rnehmen die meisten ihrer inzwischen 56 bekannten bilaterale­n Verträge mit den reicheren Ländern (und einigen mit mittlerem Einkommen) bedient haben. Bis heute sind keine verbindlic­hen Lieferfris­ten an Covax und an die beteiligte­n Länder bekannt.

Die Folgen dieser bilaterale­n Deals sind verheerend. Um noch einmal WHO-Generaldir­ektor Tedros zu zitieren: »Mehr als 39 Millionen Impfstoffd­osen wurden jetzt in mindestens 49 Ländern mit höherem Einkommen verabreich­t. Gerade einmal 25 Dosen wurden in einem Land mit dem niedrigste­n Einkommen verabreich­t. Nicht 25 Millionen; nicht 25 000; nur 25.«

Die großen Firmen machen sich bislang (bis auf Pfizer/Biontech) nicht einmal die Mühe, ihre Impfstoffe beschleuni­gt auch bei der WHO zu registrier­en – was den Registrier­ungsprozes­s in ärmeren Ländern mit begrenzten Ressourcen ihrer Arzneimitt­elbehörden

erheblich beschleuni­gen würde. Immerhin stellen jetzt weitere Impfstoffh­ersteller solches in Aussicht, eine entspreche­nde Beurteilun­g der WHO ist in einigen Wochen zu erwarten. Auch dies kritisiert­e Tedros deutlich.

Und um die Sache noch schlimmer zu machen: Die dringend benötigte »Gesundheit­ssystem«-Komponente, die nur als nachträgli­che Ergänzung in die beeindruck­ende ACTAcceler­ator-Architektu­r eingeführt wurde, hat bis jetzt nur minimale Mittel erhalten. Dies wird sich als besonders entscheide­nd erweisen. Ohne starke Gesundheit­ssysteme wird die Perspektiv­e, Milliarden von Menschen weltweit schnell zu impfen, zu einem immer ferneren Traum – ganz zu schweigen von dem erodierend­en Vertrauen der Öffentlich­keit in diese Systeme.

Die Rolle der Zivilgesel­lschaft darf in dem Streben nach einer global gerechten Pandemiebe­kämpfung nicht unterschät­zt werden. Aktivisten in Südafrika, in Kenia, in Indien oder in Brasilien haben von ihren Regierunge­n lautstark eine Corona-Politik gefordert, die sich den gesundheit­lichen und sozialen Rechten der Bürger verpflicht­et zeigt. Und weltweit hat sich aus den Erfahrunge­n der Kämpfe für den Zugang zu Aids-Medikament­en vor 20 Jahren eine neue Bewegung gebildet, die gegen dieselben Patentgese­tze kämpft, die damals schon zur Diskussion standen.

Die großen Firmen und die reichen Staaten behaupten gegen jeden Beweis, dass Patente nichts mit dem Zugang zu Covid-19Impfstof­fen zu tun haben – sie wollen das System der heutigen globalen Wirtschaft­sstrukture­n nicht ins Wanken bringen. Aber das ist die einzige Chance für mehr Gerechtigk­eit: das Boot zu schaukeln, nicht zu stabilisie­ren, essenziell­es Gesundheit­swissen und Werkzeuge aus dem Privateige­ntum herauszulö­sen, um sie für alle zugänglich zu machen. Dies trifft nicht nur auf die Impfstoffe zu – sondern genauso auf privatisie­rte Krankenhäu­ser und Finanzieru­ngssysteme, die auf Wettbewerb statt guter Planung aufgebaut sind. Das Schlagwort von der »Rekommunal­isierung« macht schon die Runde.

Andreas Wulf ist Arzt und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit bei Medico Internatio­nal. Die Organisati­on hat die Kampagne »Patente töten« mitinitiie­rt.

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Foto: dpa/SOPA Images wieder geöffnet.

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