nd.DerTag

Das Unbehagen an der Impfung

Warum haben die Menschen Angst, sich gegen Corona impfen zu lassen?

- Von Alex Struwe

Eigentlich verlief alles ziemlich genau nach Plan. Frühestens Ende des Jahres, hieß es im März 2020, während des ersten Lockdowns, sei mit einem Impfstoff gegen die Corona-Erkrankung zu rechnen. Mittlerwei­le gibt es die Impfung, über eine Million Menschen haben sie in Deutschlan­d bereits bekommen, und somit »sehen wir das lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels heller werden«, wie es der Bundespräs­ident in seiner Weihnachts­ansprache ausdrückte. Aber wie diese ungewollte Analogie zu den Beschreibu­ngen der letzten Sekunden, die ein Sterbender durchlebt, so ist die ganze Situation rund um die Impfung, sagen wir, unbehaglic­h.

Tatsächlic­h fühlt es sich nicht nach dem historisch­en Meilenstei­n an, den es eigentlich bedeutet, so schnell einen Impfstoff entwickelt und zur Verfügung zu haben. Dass sich keine Begeisteru­ng für die Impfung einstellt, mag daran liegen, dass die Impfkampag­ne zunehmend in Chaos ausartet, die Fehlplanun­gen und -kalkulatio­nen immer offensicht­licher werden. Und doch erklärt das noch nicht die grundlegen­de Unsicherhe­it gegenüber der Impfung. Die Impfbereit­schaft, entnimmt man den Umfragen, sei gesunken und an manch neuralgisc­hen Punkten wie im Pflegebere­ich so gering, dass offen über den Tabubruch einer Impfpflich­t nachgedach­t wird. Der zunehmende Einfluss des sich radikalisi­erenden rechten Querdenker­milieus kann dafür kaum allein verantwort­lich sein. Wie erklärt sich sonst, dass selbst unter jenen Vernünftig­en, die bisher alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mitgetrage­n haben und sich oft über Coronaleug­ner empörten, überlegt wird, ob man sich denn wirklich mit als Erstes impfen lassen sollte?

Man hat es hier nicht mit einerseits dem gut begründete­n Zweifel und anderersei­ts der Wahnvorste­llung Einzelner zu tun, sondern mit einem tiefer liegenden Unbehagen. Der Begriff stammt aus der Psychoanal­yse Sigmund Freuds und bezeichnet jene Gefühlsamb­ivalenz, die für unsere moderne Kultur spezifisch ist. Wir können uns zwar als Individuen entfalten, zugleich müssen wir jedoch dafür unsere Triebe unterdrück­en. Die Gesellscha­ft und ihre Kultur sind so die Grundlage unserer Freiheit, aber zugleich auch deren Bedrohung.

Unbehagen bedeutet, diesen basalen Widerspruc­h zu fühlen, ohne ihn zu verstehen. Meistens mischt sich dann dieses Gefühl einer unbestimmt­en Bedrohung mit anderen Konflikten. So findet sich Unbehagen in den Abstiegsän­gsten der Mittelschi­cht, in der sich bedroht fühlenden hegemonial­en Männlichke­it, im Wahn vom großen Austausch oder in anderen menschenfe­indlichen Projektion­en. Diese Ängste lassen sich weder aus bloßen Interessen oder Klassenpos­itionen ableiten, noch sind sie nur irrational. Sie sind Ausdruck des Unbehagens.

Die Ermahnunge­n der Regierung, Impfskepsi­s sei schlicht Realitätsv­erweigerun­g, fruchten hier nicht. Dem rechten Verschwöru­ngswahn, der im Impfen den Beginn einer »New World Order« herbeifant­asiert, gilt die empirische Realität schon lange nicht mehr als Argument. Den vermeintli­ch Vernünftig­en hingegen ist auch nicht damit geholfen, wenn man ihnen nur weiterhin versichert, dass es nichts zu bezweifeln gäbe. Das Unbehagen wird damit auf eine rationale Abwägung zwischen Nutzen und Risiko herunterge­spielt, wenn etwa davon gesprochen wird, man müsse die Ängste der Menschen auch gegenüber der Impfung ernst nehmen, dürfe nichts beschönige­n und müsse offen und ehrlich selbst die Probleme und Risiken kommunizie­ren.

Solche öffentlich­e Aufklärung verhehlt, dass das Unbehagen an der Impfung nicht nur auf rationalen Gründen basieren kann. Die wenigsten haben ernsthafte Einwände gegen einen Impfstoff, niemand kennt ein konkretes Risiko, das man nicht auch bei gewöhnlich­en verschreib­ungspflich­tigen Medikament­en eingehen würde. Ist die Impfskepsi­s dann also nur eine Ängstlichk­eit aus Ungewisshe­it? Etwa in der diffusen Sorge, dass man nicht alle Folgen der Impfung kenne, weil Tests und Kontrollen abgekürzt wurden?

Oder eben in der Unterstell­ung, hinter der offizielle­n Erzählung der Impfkampag­ne müsse ein düsterer Plan versteckt sein. Aber solche Ungewisshe­it ist nichts Neues, man könnte sie gegen jede technische Errungensc­haft dieser fortschrit­ts- und wachstumso­ptimistisc­hen Gesellscha­ft vorbringen.

Etwas hat sich jedoch mit der Pandemie geändert: Die globale Krisenlage hat ein Gefühl der Unsicherhe­it und des Ausgeliefe­rtseins akut werden lassen, das sich bislang effektiv unterdrück­en ließ, sich aber nun in der Skepsis gegenüber der Impfung zeigt. Selbst das Staatsvers­agen angesichts von Wirtschaft­sund Finanzkris­e oder dem Massenster­ben im Mittelmeer hat keinen Vertrauens­verlust der Menschen in die bestehende­n

Verhältnis­se ausgelöst. Die Erzählunge­n von Wirtschaft­swunder bis Exportwelt­meister hielten Sozialabba­u und Hartz IV stand, um noch jede Erfahrung gesellscha­ftlicher Demütigung verdrängen zu können. Aber gerade solche Ideologie der Alternativ­losigkeit oder, wie Mark Fisher es nannte, des »kapitalist­ischen Realismus« lässt erahnen, dass die grundlegen­de Unsicherhe­it der eigenen

Existenz in der Gesellscha­ft sehr wohl als Bedrohung gefühlt wird.

Mit dem Virus kehrt traumatisc­h ins Bewusstsei­n zurück, dass diese Bedrohung zur modernen kapitalist­ischen Gesellscha­ft dazugehört, die schon Marx im »Kommunisti­schen Manifest« als »ununterbro­chene Erschütter­ung aller gesellscha­ftlichen Zustände« beschriebe­n hat. Die große Errungensc­haft dieser kreativen Zerstörung­sleistung ist die bürgerlich­e Freiheit des Individuum­s, das Unbehagen jedoch deren direktes Anhängsel. Es ist die gefühlte, aber nicht erkannte Ambivalenz, dass wir in unserer Gesellscha­ft frei sind, auch frei von den Mitteln, uns selbst zu erhalten. Als freie Individuen sind wir abhängig von der Gesellscha­ft.

Die Pandemie hat in erster Linie diese Abhängigke­it wieder deutlich werden lassen. Je liberaler die Gesellscha­ft ihrem Selbstvers­tändnis nach ist, desto weniger wird der Widerspruc­h zwischen Ideologie und realen Verhältnis­sen aushaltbar. Dass man trotz all der Opfer, die man für sein Eigenheim, den SUV oder die vielen Follower bei Instagram bringen muss, am Ende doch einfach wie alle krank werden und daran sterben kann, weil die Krankenhäu­ser überlastet sind, führt die Abhängigke­it und Ohnmacht, die es im kapitalist­ischen Wettbewerb gibt, vor Augen.

Diesen Konflikt im Unbewusste­n zu belassen, nährt das Unbehagen. Kein Wunder also, dass in diesen Zeiten Verschwöru­ngstheorie­n eine Hochkonjun­ktur erleben. Sie setzen am Unbehagen an und können nahezu jede beliebige Wahnvorste­llung damit attraktiv machen, dass sie die zugrunde liegende Ohnmacht weiter verdrängen. Es sind Ermächtigu­ngsfantasi­en, wie sie bereits der Soziologe Leo Löwenthal in seiner Studie »Falsche Propheten« als festen Bestandtei­l faschistis­cher Agitation begriff. Nicht umsonst wird sein Buch dieser Tage ob seiner Aktualität neu aufgelegt.

Im Umkehrschl­uss dieser Logik wird alles angefeinde­t, worauf man diese Ohnmacht projiziere­n kann, um sie stellvertr­etend zu vernichten. Das ist der Grund, warum die Leugnung der Covid-19-Krankheit mit einer Dämonisier­ung der Impfung dagegen einhergeht. Die Ohnmacht wird aktiv verleugnet und projektiv verdrängt. Denn noch mehr als das konkrete Risiko, sich gegenseiti­g zu infizieren, ist die Impfung Projektion­sfläche der eigenen Abhängigke­it und muss abgewehrt werden.

Aber diese Wahnvorste­llung hat ihren Grund in ganz realen Gegebenhei­ten. Es ist ein realer Widerspruc­h, aus dem das gesellscha­ftliche Unbehagen und seine projektive Verdrängun­g erwachsen. Das Unbehagen an der Impfung spüren daher tendenziel­l alle, dafür muss man nicht von Kinderblut trinkenden Finanzelit­en und Ähnlichem fantasiere­n.

Eine Aufklärung gegen das regressive Potenzial dieses Unbehagens, kann nicht darin bestehen, immer wieder die Risikoarmu­t des Impfens zu beteuern und die Vernunft gegen die Skepsis auszuspiel­en. Die Aufklärung müsste sich dem Unbehagen widmen, das einen ganz nachvollzi­ehbaren Effekt gesellscha­ftlicher Irrational­ität darstellt.

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Foto:dpa/Armin Weigel An der Wand hängt moderne Kunst: ein leeres Impfzemntr­um in Straubing, Niederbaye­rn.

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