nd.DerTag

Kontrollzw­ang

- Robert Rescue

Wenn ich die Treppen nach unten steige, merkt man mir nicht an, was ich die letzte halbe Stunde durchgemac­ht habe. Ich bilde mir ein, dass ich den Eindruck erwecke, als hätte ich beschlosse­n, das Haus zu verlassen, hätte mir ordentlich­e Klamotten angezogen und die Tür hinter mir zugezogen. Das alles habe ich auch getan, aber zwischen umziehen und Haus verlassen ist mehr Zeit vergangen, als sie Menschen aufbringen, die den Zustand ihrer Wohnung sorglos betrachten. Jedes Mal, wenn ich das Haus verlassen will, plane ich ein paar Minuten für den Kontrollga­ng ein. Wenn es nur ein Kontrollga­ng wäre, also vielleicht ein grober Überblick, dann wäre es wohl noch normal, aber aus einem Gang werden stets Gänge. Die wichtigste Station ist dabei die Küche, denn dort befinden sich gleich mehrere Geräte, die überprüft werden müssen. Herd und Wasserkoch­er zum Beispiel. Der Wasserkoch­er leuchtet, wenn er in Betrieb ist und wenn er nichts zu tun hat, dann leuchtet er nicht. Eigentlich eine simple Sache. Aber ich bin mir nicht sicher. Leute wie ich sind misstrauis­ch, was Haushaltsg­eräte und ihre Funktion oder

Nichtfunkt­ion angeht. Deshalb wird alles kontrollie­rt. Immer und immer wieder. Auf die

Herdplatte­n lege ich die Hände. Nicht kurz, sondern einige

Sekunden, solange, bis im Hirn eine Informatio­n übermittel­t worden ist, die besagt, dass ich mich nicht verbrannt habe.

Kontrollla­mpen am Herd würden bei Menschen wie mir nichts helfen. So eine Lampe kann einen ja auch täuschen, oder nicht? Sie ist kaputt und alle Platten sind angeschalt­et. Nicht auszudenke­n.

Wenig später erreiche ich die Tür. Die Kontrollgä­nge dienen dem Zweck, von einer Unsicherhe­it zu einer Sicherheit zu gelangen. Die habe ich jetzt erreicht, aber nun stehe ich vor der letzten Hürde. Es heißt, dass manche Kontrollzw­ang Behaftete nicht mehr das Haus verlassen können. Sie scheitern an der Tür. Sie vergewisse­rn sich so lange, dass die Tür zu ist, bis sie einen Nervenzusa­mmenbruch bekommen, die Wohnung wieder betreten und die Tür mit einem RUMMS zuschmeiße­n. Es ist ein leichtes, eine Tür zu öffnen, aber danach beginnen die Probleme. An guten Tagen rüttele ich ein-, zweimal am Knauf, an schlechten Tagen komme ich auf acht, neun Mal und dann muss meist das rationale Denken mit einem »Schluss jetzt! Die Tür ist zu!« Einhalt gebieten.

An mir beobachte ich seit einiger Zeit ein neues Verhalten. Nachdem ich die Wohnung abgeschlos­sen habe und die Treppe herunterst­eige, kontrollie­re ich, ob ich Schlüssel und Brieftasch­e bei mir trage. Dazu greife ich nach hinten zur linken Gesäßtasch­e und dann nach vorne zur linken Hosentasch­e. Das mache ich dann so lange, bis ich die Haustür erreiche. In dem Moment, wo ich die Tür öffne und heraustret­e, greife ich ein letztes Mal rhythmisch nach hinten und nach vorne. Dann bin ich auf den Straßen des Wedding und muss den Anschein erwecken, als wäre ich vollkommen normal.

Sonntagmor­gen

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