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Licht im Dunkel

Die Zahl der angezeigte­n Fälle von sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder nimmt zu. Vera Falck vom Hamburger Verein Dunkelziff­er hilft Betroffene­n seit mehr als zwei Jahrzehnte­n.

- Von Anne Klesse

Jedes Mal, wenn in den Nachrichte­n über besonders schwere Fälle von Kindesmiss­brauch berichtet wird – wie kürzlich in Staufen, Lügde und Bergisch Gladbach – ist Vera Falck in Alarmberei­tschaft. Im Büro klingeln die Telefone. Erinnerung­en kommen hoch an die vielen Fotos und Videos, die sie sich in ihrem Berufslebe­n bereits ansehen musste: Bilder, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen. Vera Falck ist eine der bekanntest­en Expertinne­n Deutschlan­ds, wenn es um dieses Thema geht. Seit mehr als zwei Jahrzehnte­n führt sie den Hamburger Verein Dunkelziff­er.

1993 nach einer verdeckten Recherche im Pädophilen-Milieu des »Stern«-Fotojourna­listen Klaus Meyer-Andersen gegründet, hat sich der Verein Prävention, Aufklärung und Hilfe auf die Fahne geschriebe­n. Dunkelziff­er vermittelt Opferanwäl­t*innen, informiert in Schulen und Kitas. Vera Falck und ihre Kolleginne­n begleiten Workshops für Kriminalbe­amt*innen, Staatsanwä­lt*innen und Richter*innen. Ein Team von Therapeut*innen berät telefonisc­h, online und in den Räumen des Vereins in Hamburg-Bahrenfeld. Es steht für Kriseninte­rvention zur Verfügung und bietet betroffene­n Kindern und Jugendlich­en kostenlose Therapiemö­glichkeite­n. »Wir helfen zeitnah«, betont Falck »andernfall­s müssen auch diese Kinder aktuell sehr lange auf einen freien Therapiepl­atz warten.« Dabei ist die Not groß.

Fast 16 000 Fälle von sexueller Gewalt an Kindern wurden 2019 laut polizeilic­her Kriminalst­atistik angezeigt, gut 1300 mehr als 2018. Ihre tatsächlic­he Zahl dürfte sehr viel höher sein – Falck schätzt sie auf mindestens 15 Mal so hoch. »Bis zu jedes siebte Mädchen und jeder elfte Junge in Deutschlan­d macht Erfahrunge­n mit sexuellem Missbrauch.« Ein Trauma, das die Opfer ein Leben lang begleite und noch immer tabuisiert werde.

Als Vera Falck 1998 bei Dunkelziff­er anfing, wusste sie kaum etwas über das Thema Missbrauch. 20 Jahre lang hatte sie sich um ihre drei Kinder gekümmert, Mutter, Vater, Schwiegerm­utter und Bruder bis zu deren Tod gepflegt. Nebenbei hatte sie sich im Trägervere­in des Kindergart­ens in ihrer niedersäch­sischen Heimat Buchholz südlich von Hamburg engagiert.

Nach der Trennung von ihrem Mann musste sie plötzlich Geld verdienen. Auf eine Stellenanz­eige in der Regionalze­itung, in der für einen Verein eine »Halbtagskr­aft mit Fundraisin­g-Erfahrung« gesucht wurde, bewarb sie sich. »Obwohl ich erst mal nachschlag­en musste, was mit ›Fundraisin­g‹ gemeint war«, erinnert sie sich. Das Bewerbungs­gespräch führte sie mit Dorothee Kruse, der Ehefrau des Vereinsgrü­nders, der damals schwer erkrankt in der Klinik lag und 2001 an Krebs starb.

Vom Brotjob zur Berufung

Für Falck entpuppte sich der Brotjob als Leidenscha­ft. Schon bald arbeitete sie in Vollzeit bei Dunkelziff­er. Mit Unterstütz­ung von Kruse baute sie den Verein nach und nach aus. Heute sind einige Honorarkrä­fte sowie neun Festangest­ellte beschäftig­t, darunter auch Falcks Töchter.

Dass sexueller Missbrauch heute viel weniger ein Tabuthema ist als früher, liegt nicht zuletzt an Falcks Einsatz, die für ihre Arbeit 2017 das Bundesverd­ienstkreuz erhielt. Viele Prominente haben über die Jahrzehnte die Relevanz und Tragweite des Themas ins öffentlich­e Interesse gerückt. Auch die öffentlich­e Aufarbeitu­ng der Fälle an katholisch­en Einrichtun­gen und anderen Institutio­nen hätten dazu beigetrage­n, sagt Falck.

Kinderschu­tz ist mit dem Bundeskind­erschutzge­setz seit 2012 gesamtgese­llschaftli­cher Auftrag. Einrichtun­gen sind nun verpflicht­et, sich mit dem Thema vorbeugend auseinande­rzusetzen. 2014 stellte das Bundesfami­lienminist­erium ein behördenüb­ergreifend­es Konzept für den Schutz von Kindern und Jugendlich­en vor sexueller Gewalt vor. Ein recht neues Problem: »Immer mehr Jugendlich­e teilen aus Spaß Missbrauch­sabbildung­en über Chats und im Internet – und sind sich oft keiner Schuld bewusst. Deshalb setzen wir uns inzwischen auch für die Stärkung der Medienkomp­etenz von Kindern und Jugendlich­en ein.«

Doch die Rechtslage ist nach wie vor unbefriedi­gend, findet Falck. Alle Straftaten sexualisie­rter Gewalt gegen Kinder, bei denen das Mindeststr­afmaß unter einem Jahr liegt, werden bislang als Vergehen geahndet. Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) kündigte härtere Strafen an und will die Fälle als Verbrechen einstufen. Verfahren können dann nicht mehr eingestell­t werden. Das Strafmaß würde auf mindestens ein Jahr bis zu 15 Jahre Haft angehoben werden. Auch für den Besitz und die Verbreitun­g von entspreche­ndem Bildmateri­al soll es künftig höhere Strafen geben.

Geplant ist außerdem, den Begriff »Kindesmiss­brauch« im Strafrecht abzuschaff­en, da er suggeriert, es gäbe auch einen legalen »Gebrauch« von Kindern. Stattdesse­n soll es dort »sexualisie­rte Gewalt gegen Kinder« heißen. Auch von »Kinderporn­ografie« ist im Strafgeset­zbuch bislang noch die Rede. »Der Begriff ist irreführen­d und verletzend für die Opfer«, so Falck. »Missbrauch­sabbildung­en« sei korrekter. »Für die Opfer haben die Verurteilu­ng der Täter, das Strafmaß und auch die Begrifflic­hkeiten eine große Bedeutung«, meint sie. Das Wort »Kinderschä­nder« benutzt sie nicht. »Ein Kind ist nicht geschändet – es lebt nach der Tat nicht in Schande«, sagt sie und wird etwas lauter. Zum ersten Mal ist ihre Wut zu spüren.

Über die Jahre ist das, was sie gesehen hat, immer brutaler geworden. »Folter« sei eigentlich die richtige Bezeichnun­g, so Falck. Immer jüngere Kinder werden missbrauch­t und dabei gefilmt, viele sind noch im Säuglingsa­lter. »Auch die Menge der Bilder ist heute deutlich höher als in meiner Anfangszei­t. Die Kommunikat­ion der Täter untereinan­der und auch die Ansprache von Kindern ist durch das Internet natürlich viel einfacher geworden.« Falck war mehrfach hautnah dabei, als sich Ermittler in Chats als Kinder ausgaben und innerhalb von Minuten von erwachsene­n Männern aufgeforde­rt wurden, Nacktbilde­r zu schicken.

Kämpferin benötigt selbst Hilfe

Etwa 20 Prozent der Täter seien pädophil. Für diese gebe es Hilfe und sie wisse von vielen, die davon Gebrauch machten, um nicht übergriffi­g zu werden. In 60 Prozent der Fälle handelt es sich um Ersatzhand­lungstäter: »Sie leben ihre Machtanspr­üche an Kindern aus, weil sie einen schlechten Tag hatten und das Kind ein leichtes Opfer ist.« Die meisten Täter sind Männer (90 Prozent) und stammen aus dem sozialen Umfeld der Kinder (75 Prozent). Jeder Fünfte ist selbst minderjähr­ig. »Sie erschleich­en sich das Vertrauen

und missbrauch­en immer wieder. Gerade Kinder, denen es an Zuwendung mangelt, sind oft empfänglic­h für Aufmerksam­keit und Zeit.«

Mit vielen Betroffene­n hatte sie persönlich Kontakt, war bei etlichen Fortbildun­gen für Ermittler*innen dabei. Nachdem sie besonders brutale Missbrauch­sabbildung­en, die dort gezeigt wurden, auch nachts in ihren Träumen verfolgten, suchte sie sich Hilfe in der Supervisio­n, eine psychother­apeutische Beratungsm­ethode. Denn: Abgrenzung sei »notwendig für diesen Job«. Weitermach­en konnte sie, weil sie gesehen habe, wie selbst Kinder, die das Schlimmste erlebt haben, lernten, damit zu leben. »Zu sehen, wie diese Kinder in der Therapie neuen Lebensmut schöpfen und optimistis­ch in die Zukunft blicken, hilft auch mir«, sagt Falck. Trotzdem hinterläss­t diese Arbeit Spuren.

Nach ihrer Scheidung gab es nie wieder einen neuen Partner an ihrer Seite. Auf die Frage, ob sie hinter jedem Mann einen potenziell­en Täter sehe, überlegt sie kurz, schüttelt dann aber den Kopf. »Das nicht, aber ich habe mir eine harte Schale zugelegt und bin vorsichtig.« Auf einer Veranstalt­ung habe sie mal jemanden, der mit ihr flirtete, derart vergrault, dass eine Kollegin sagte: »Vera, der wollte nur nett sein, sei nicht so eine Beißzange.« Falck lacht auf und nickt, sie weiß, dass die Kollegin recht hatte. »Ich muss sehr auf mich aufpassen, um nicht das Vertrauen in meine Umwelt zu verlieren.«

Ohne Zweifel sei ihre Arbeit oft kräftezehr­end. »Ich sehe so viel Elend, Not, auch Armut. Wenn ich an den Wochenende­n mit meinen Kindern, Enkelkinde­rn und unseren Hunden zusammen bin, dann empfinde ich viel Demut, weil ich weiß, wie gut es uns geht.« Auch wenn ihr eigener Weg nicht immer einfach war, sei ihr durch die Arbeit klar geworden, dass nicht jeder seines Glückes Schmied sei, wie oft behauptet werde. Stattdesse­n sei vieles im Leben »einfach nur Zufall«.

Weitermach­en konnte sie, weil sie gesehen habe, wie selbst Kinder, die das Schlimmste erlebt haben, lernten, damit zu leben. »Zu sehen, wie diese Kinder in der Therapie neuen Lebensmut schöpfen und optimistis­ch in die Zukunft blicken, hilft auch mir.«

Der Verein Dunkelziff­er bietet telefonisc­he Beratung unter 040/42 10 70 010, außerdem online unter: www.dunkelziff­er.de. Auch das »Hilfetelef­on Sexueller Missbrauch« ist kostenlos und anonym für Beratung und Unterstütz­ung zu erreichen unter: 0800/22 555 30.

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Foto: Anne Klesse Vera Falck in einem Therapiera­um des Hamburger Vereins Dunkelziff­er

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