nd.DerTag

Rausch und Kater

Frédéric Valin

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Laut einer Umfrage vom Dezember 2020 haben 35,5 Prozent der Befragten seit Pandemiebe­ginn mehr getrunken, oder sogar viel mehr. Schon 2019 stellte die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO fest, dass Deutsche pro Kopf und Jahr im Schnitt 13,4 Liter reinen Alkohol in sich reinschütt­en – weltweit ist das der Rang vier.

Vielleicht ganz folgericht­ig stammt denn auch der Begriff der Sucht aus Deutschlan­d. Er wurde wohl anno 1528 von dem Theologen, Publiziste­n und Buchdrucke­r Sebastian Franck in Umlauf gebracht und machte dann rasant Karriere. Zu Martin Luthers und seiner Mitstreite­r Leidwesen interessie­rte das die Massen aber nur mäßig – und als die natürliche Autorität der protestant­ischen Prediger versagte, rief man nach ganz weltlichen Gesetzen. Kneipensch­ließungen, Ausschankz­eitenregel­ungen und Schnapsver­bote waren die Folge, wobei auch hier die meisten Maßnahmen wirkungslo­s blieben. Hessen etwa erließ 1524, 1559 und 1579 Gesetze zur Eindämmung des Branntwein­konsums, die allesamt nach kurzer Zeit wieder kassiert wurden.

Wie es zu jener Suffkrise kommen konnte, die den Protestant­ismus umtrieb, ist etwas unklar. Verbreitet ist die Theorie, das politisch-soziale Chaos jener Zeit habe vielen das Glas in die Hand gedrückt. Hinzu kommt eine Explosion des Angebots: Als man die aus islamische­n Ländern übernommen­e Technik der Destillati­on verfeinert hatte, entstand im 16. Jahrhunder­t eine regelrecht­e Alkoholind­ustrie.

Was aber ist eigentlich Abhängigke­it? »Im Grunde eine zwanghafte Gewohnheit, mit der nur brechen kann, wer dafür den Preis einer großen Anstrengun­g zahlt«, schreibt der Soziologe und Schriftste­ller Albert Memmi in seinem Buch »Trinker und Liebende«. Nun gilt das für die meisten regelmäßig­en Tätigkeite­n. Abhängig ist, so Memmi genauer, wer Bedürfniss­e befriedige­n muss. Und wer Bedürfniss­e befriedigt, hat dafür einen Preis zu zahlen.

Menschen mit hohem Sicherheit­sbedürfnis verzichten deshalb lieber auf das Trinken, Rauchen und fettiges Essen. Von solchen Sicherheit­smenschen kritisch beäugt wird, wer ängstlich auf sein Leben guckt. Nüchterne, schreibt der Kunsthisto­riker Peter Richter in seinem Buch »Über das Trinken«, können Betrunkene­n letztlich nicht recht verzeihen. Es ist die Rache, die sie dazu treibt, allerlei Warnschild­er vor jeden Genuss zu pflanzen. Allerdings hat wirklich jede Abhängigke­it ihren Preis – und folgt auf jeden Rausch der Kater.

Dieser ist indes sozial gewollt: Erst der moderne Staat hat versucht, den Rausch an sich zu regulieren und nicht seine möglichen Wirkungen. Es geht nicht darum, die Verheerung­en zu leugnen, die Alkohol sozial und medizinisc­h anrichten kann. Es ist aber verkürzt, den Alkohol zum Zentrum des Problems zu machen. Oder wie es der britische Komiker Russel Brand einst sagte: »Drogen und Alkohol sind nicht mein Problem, sie sind meine Lösung. Die Realität ist mein Problem.« Erst die Erfindung der Sucht hat diese simple Erkenntnis zu einem Bonmot werden lassen.

Wenn die Zeit reif ist, versiegt im Übrigen offenbar auch der Durst. So war die friedliche Revolution von 1989 auffallend nüchtern: Sie kündigte sich in einer nie dagewesene­n, völlig unvorherge­sehenen statistisc­hen Anomalie an: Im Frühling des Jahres 1989 brach in der DDR der Schnapskon­sum ein – um 0,7 Liter pro Nase.

erörtert die Erfindung der Sucht

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