Die Philosophie der Entwirklichung
Eine Kritik des radikalen Konstruktivismus.
Der eine ist erst einmal weg, um die anderen ist es jüngst stiller geworden. Doch die Welle, auf der beide reiten, ist nicht gebrochen: Für Donald Trump und die Agitatoren von »Querdenken« kann, soll und darf es keine Aussagen über die Wirklichkeit geben, die einen Objektivitätsanspruch besitzen. Die »Prinzen« singen: »Es ist alles nur geklaut.« Radikale Gegner der Existenz von ›Wahrheit‹ meinen: »Es ist alles nur konstruiert.«
Theoretiker des »radikalen Konstruktivismus« sehen das sublimer, aber nicht substanziell anders. Einerseits sagt etwa der Biophysiker und Philosoph Heinz von Foerster (1911 – 2002) über das Bewusstsein: »Objektivität ist eine Wahnvorstellung.« Andererseits wollen uns diese Leute ja nicht etwas Subjektives anvertrauen, sondern begründet etwas über eine Realität – hier: die des Bewusstseins – feststellen. Wer Aussagen über die Realität ausschließt, kann nicht wissen, was es mit dem Bewusstsein auf sich hat. Wenn wir nicht mehr unterscheiden können, ob ein Bewusstsein rein subjektiv und bar jeden Realitätsbezuges bleibt oder nicht, wird’s brenzlig. Wissen und Wahn lassen sich dann nicht mehr unterscheiden.
Wenn jede Person nur etwas mitzuteilen vermag, das keinerlei Objektivitätsanspruch erhebt, so befinden wir uns in der Selbsterfahrungsgruppe. Ruth teilt dann ihr Empfinden mit und Hans seins. Ernst von Glasersfeld, ein anderer Theoretiker des radikalen Konstruktivismus, sagt: »Der radikale Konstruktivismus ist deswegen radikal, weil er mit der Konvention bricht und eine Erkenntnistheorie entwickelt, in der Erkenntnis nicht mehr eine ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens.« Irgendwelche objektive Gesichtspunkte für diese Ordnung fallen dem radikalen Konstruktivismus zufolge aus. Ruth und Hans ordnen ihre Gedanken wie ihre Bücher: Verfasser und Farbe des Einbands bilden mögliche Kriterien. Dem Inhalt bleiben sie äußerlich.
Radikale Konstruktivisten blicken auf Erkenntnisarbeit aus großer Höhe. Sie sehen es darauf ab, von einigen kleinen Unterschieden abzusehen. Auch bei Nichtphilosophen ist der Satz Foersters populär: »Wenn ein Mensch sagt, dass er die Wahrheit gefunden hat, wird er zu einem gefährlichen Tier.« Foerster verwendet den Wahrheitsbegriff vieldeutig. Er vermischt Aussagen über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit weltanschaulichen Stellungnahmen. Das Zutreffen von bestimmten Aussagen ist aber etwas ganz anderes als »die Wahrheit von allem«.
»Wissensansprüche können fehlgehen, Wissen selbst nicht. (...) Wissen ist der Name für den Erfolgsfall, für einen erfolgreichen Wissensanspruch«, sagt Markus Gabriel. Der radikale Konstruktivismus knüpft an verbreitete Vorstellungen an. Eine lautet: »Es gab Irrtümer, also ist nie sicher, ob das, was in der Wissenschaft jetzt als richtig und wahr gilt, auch tatsächlich zutrifft.«
Wer an einem bestimmten Argument Fehler erkennt, kann dafür zutreffende Gründe nennen. Nur deshalb ist er über diesen Irrtum hinaus. Das weiter entwickelte Wissen vermag zu zeigen, welche Aspekte das unentwickeltere Wissen isoliert und verabsolutiert. Für die bestimmte Erkenntnispraxis interessiert sich nicht, wer fragt, wie Erkenntnis unabhängig von ihr und vom vorhandenen Wissen überhaupt möglich sein könne.
Diese Frage ähnelt dem Horizont von radikalen Anhänger ihrer Religion. Sie wollen sich allein auf Gott verlassen. Alles menschliche Erkennen gilt ihnen als unsicher. Die Haltung des vermeintlich grenzenlosen Zweifels verschwistert sich notorisch mit dem Wunsch, getrennt von der Erkenntnisarbeit eine Substanz beanspruchen zu können, die der Erkenntnis ein sicheres Fundament verschaffe. Radikale Konstruktivisten glauben nicht an die Existenz eines solchen Steins der Weisen, halten aber implizit am metaphysischen Anspruch eines absoluten Außen fest. Implizit versteifen sie sich wie viele andere vor ihnen darauf, »die Erkenntnis, die wir haben, an dieser Unmöglichkeit zu orientieren und in diesem Sinne relativ zu nennen« – so Max Horkheimer.
Der radikale Konstruktivismus hat Schwierigkeiten mit der Unterscheidung zwischen Konventionen (Rechts- oder Linksverkehr?) und wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. »Lebende Systeme sind interagierende Systeme, die mit anderen Systemen konsensuelle Bereiche als sozial akzeptierte Wirklichkeiten aufbauen«, so der Siegfried J. Schmidt, auch er ein Vertreter dieser Denkart.
Alle »Konstrukte« und »Narrative« unterliegen nach dieser Theorie der Absprache, der Mehrheitsentscheidung von Individuen oder des Sicheinspielens eines Konsens. Die Konsenstheorie hat eine subjektivistische Schlagseite. Ihr Subjektivismus ist nicht solitär, sondern intersubjektiv. Unerklärlich bleibt der Konsenstheorie, warum Forscher überhaupt noch Überraschungen erfahren. Dass eine lange Zeit die euklidische Geometrie herrschte, hat nicht verhindert, dass man später im Rahmen einer nicht-euklidischen Geometrie dachte.
Wenn Positionen nicht inhaltlich diskutiert werden, sondern an ihnen zählt, ob sie von der Mehrheit befürwortet werden, dann war zum Beispiel der Nationalsozialismus lange Zeit ein »soziales Konstrukt«, das »Viabilität« aufwies. Es scheiterte solange nicht in der Realität und erwies sich als überlebensfähig, wie der NS existierte. Mussolini
hat bereits 1921 erklärt: »Wenn Relativismus Verachtung für feste Kategorien und diejenigen, die die Träger der objektiven und unsterblichen Wahrheit zu sein behaupten, bedeutet, (...) dann gibt es nichts Relativistischeres als die faschistische Haltung und Aktivität. (...) Ausgehend von der Tatsache, dass alle Ideologien den gleichen Wert haben, dass alle Ideologien bloße Fiktionen sind, kommt der moderne Relativist zu der Einsicht, dass jeder das Recht hat, seine eigene Ideologie zu erschaffen und zu versuchen, sie mit aller Energie, die ihm zur Verfügung steht, durchzusetzen.«
Um eine dürftige Welt handelt es sich, wenn in ihr Erkenntnis allein subjektiv konstruiert und die Wirklichkeit uns kognitiv unzugänglich bleibt. Technik oder Naturwissenschaft, Medizin oder Pädagogik könnten sich unter dieser Voraussetzung nicht entwickeln.
Der radikale Konstruktivismus verneint so etwas wie die Übereinstimmung des Wissen sowie der dieses Wissen umsetzenden Praxis mit der Wirklichkeit. Ingenieure und Mediziner hingegen gehen von dieser Korrespondenz gerade aus. Ein Zufall ist das nicht. Sie sehen un
radikalkonstruktivistische Weltsichten behandeln gesellschaftliche Realität wie ein neues Produkt von Lego.