»Unsere ArtPerformance mussten wir heimlich machen«
Veronika Radulovic lehrte ab 1993 an der Kunsthochschule Hanoi. Seitdem baute sie eine beachtliche Sammlung vietnamesischer Kunst auf
Sie haben Anfang Dezember gemeinsam mit dem Journalisten und Schriftsteller Christian Y. Schmidt auf dem Arnswalder Platz in Berlin eine kleine Gedenkstätte für die Corona-Toten errichtet. Mit Friedhofskerzen, Blumen und Tafeln. Wer kommt dorthin?
An Sonntagen ab 16 Uhr kommen so 20 bis 40 Leute, verteilt auf zwei Stunden. Anfangs waren es vorwiegend Künstler – jetzt kommen auch Leute, die Angehörige durch Corona verloren haben.
Warum haben Sie die Initiative dazu ergriffen?
Damals bestimmten die Querdenker und Corona-Leugner die öffentliche Debatte. Die Corona-Toten hingegen blieben anonym. Es war nur eine Zahl – sie hatten keine Stimme, kein Gesicht; es gab keinen Ort, für die Trauer um sie. Bei Fahrradunfällen und Flugabstürzen gibt es immer Orte, wo man Holzkreuze und Kerzen hinstellt, um an die Opfer zu erinnern. Ich bin katholisch erzogen worden. Das Ritual, der Toten mit Kerzen zu gedenken, ist für mich alltäglich.
Haben Sie in der Familie oder im Freundeskreis Corona-Tote zu beklagen? Nein, Gott sei Dank noch nicht. Eine enge Bekannte hat ihre schwere Erkrankung glücklicherweise überlebt. Aber das Thema kommt immer näher an mich heran. Ich habe Nachbarn, die im Krankenhaus arbeiten. Da wird täglich um Menschenleben gekämpft.
Sie haben lange Zeit in Vietnam gelebt, Ihr Mitinitiator Christian Y. Schmidt in China. In beiden Kulturen spielt das Gedenken an Tote eine viel größere Rolle als in Europa. Familien kommen nicht zusammen, um Geburtstage zu feiern, sondern um die Todestage der Ahnen zu begehen. Hat Sie das geprägt?
Ja. In Vietnam bringt man alten Menschen sehr viel Respekt entgegen. Am Neujahrsfest wird das Festmahl zuerst den toten Ahnen auf dem Ahnenaltar der Familie gereicht, bevor die Lebenden davon essen. Die Ahnen sind also immer präsent in den Familien. Als ich an der Kunsthochschule Hanoi arbeitete, gab es Tage, an denen keine Studenten da waren. Ich habe mich gewundert. Der Grund war: Ein Kommilitone hatte einen Angehörigen verloren, und da haben alle Studenten der Familie die Ehre eines Kondolenzbesuches erwiesen.
Aber eigentlich hat der Umgang mit Toten in Vietnam mir nur etwas in Erinnerung gerufen, das ich aus meiner Kindheit noch kenne. Damals wurden die Toten noch zwei Tage lang aufgebahrt, damit die Familien Abschied von ihnen nehmen konnten. Heute erscheint mir der Umgang mit Toten und die damit verbundene Trauerkultur in Deutschland stärker tabuisiert. Ihr Andenken wird meist ausgeklammert.
Vietnam ist es gelungen, durch rigorose Abschottung und eine disziplinierte Bevölkerung das Virus über viele Wochen aus dem Land völlig zu verbannen. Dort gab es nur ganz wenige Corona-Tote. Könnte das auch ein Weg für Deutschland sein?
Solche Diskussionen habe ich ganz intensiv zu Beginn der Coronakrise geführt. Eine vietnamesische Kunsthistorikerin wohnte fünf Monate bei mir. Sie wollte auf dem Rückweg von Paris nach Hanoi nur für einen kurzen Abstecher in Berlin bleiben. Dann hat Vietnam die Grenzen dichtgemacht, und sie konnte nicht zurück. Wir haben also permanent über Corona-Politik hier und dort gesprochen.
In Vietnam reagierte man immer unmittelbar und extrem schnell. Das öffentliche Leben wurde sofort radikal eingeschränkt, Isolation und Kontaktbeschränkungen wurden strikt eingehalten. Schulen waren für mehrere Monate geschlossen. Es wurden überall kostenlos Masken verteilt. Flugpassagiere erhielten Ganzkörper-Schutzanzüge. Wer nach Vietnam einreist, muss bis heute eine strikte zwei- bis vierwöchige Quarantäne einhalten, die staatlich überwacht wird.
Wir haben täglich über unsere unterschiedlichen »Lockdowns« geredet. Für meinen Gast war das, was wir in Deutschland praktizierten, überhaupt kein Lockdown. Überhaupt nicht verstanden hat sie Corona-Leugner und große Demonstrationen.
Während wir seit Monaten diskutieren, sterben täglich mehr und mehr Menschen. Ich hoffe, dass es auch bei uns schnelle und wirksame Entscheidungen geben wird und wir lernen, endlich auch mal dort hinzuschauen, wo man das Virus sehr wirksam und schneller bekämpft hat. Über das Argument, das seien alles keine demokratischen Länder, in denen das so gehandhabt wird, sollte man mal mit dem Virus diskutieren.
Sie sind bildende Künstlerin. Wie und wann sind Sie da nach Hanoi gekommen?
1993, über Umwege. Ich hatte damals einen Arbeitsaufenthalt in der Künstlerresidenz »Artist Village« in Singapur. Dort lernte ich die neuseeländische Journalistin Helen West kennen, die den ersten Vietnam-Reiseführer geschrieben hat. Das Land hatte ja gerade begonnen, sich politisch zu öffnen, die ersten noch wenigen Touristen kamen. Helen West machte mich auf Vietnam neugierig. Es gäbe dort so tolle Künstler, sagte sie. Ich brachte Vietnam damals nur mit Kriegsbildern und den Protesten gegen den Krieg in Verbindung, nicht mit Kunst. Das passte nicht in meine Vorstellungswelt. Mein Interesse war geweckt.
Und dann?
In Hanoi angekommen, hat mich die Atmosphäre in der Stadt verzaubert. In einer nahezu autofreien Stadt zu sein, faszinierte mich. Die damals allgegenwärtige künstlerische Technik war die Lackmalerei. Sie begeisterte mich, und ich nahm Unterricht darin. Lackkunst ist vom Material her eine sehr wertvolle Technik – und ein Lackbild dient sowohl der Darstellung staatlicher Macht, war aber damals auch ein sehr begehrter Verkaufsartikel für Touristen.
Sie nahmen Unterricht? Sprachen Sie denn damals schon Vietnamesisch?
Kein Wort. Das habe ich erst später mehr schlecht als recht gelernt. Mein Lehrer sprach auch weder Englisch noch Deutsch. Bei der Verständigung half ein gehörloses Mädchen, das in einer Manufaktur für Lackwaren arbeitete. Ich habe diese Technik also ohne Sprache erlernt, nur durch Gesten und Berührungen. Später gab es immer Menschen, die sprachliche Brücken bauten, fast alle hatten in der DDR studiert.
Einige Künstler hatten die Überlegung, eine gemeinsame Ausstellung mit mir zu machen. Seit 1986 hatte sich Vietnam politisch geöffnet – Ausstellungen mit einer ausländischen Künstlerin waren theoretisch erlaubt, aber noch niemand hatte ausprobiert, ob man diesen neuen Zusagen glauben konnte. Also wurde ich als Versuchskaninchen vorgeschoben, um zu testen, ob das auch praktisch erlaubt wird.
Und wurde die Ausstellung erlaubt?
Ja, unter einer Bedingung: Die deutsche Botschaft musste mir schriftlich bescheinigen, dass ich nicht geisteskrank bin. Mein privat organisierter Aufenthalt, ohne dass eine Organisation hinter mir stand, hatte den Direktor einer staatlichen Galerie so sehr irritiert, dass er diese Bedingung stellte.
Die Ausstellung, also immerhin die seit Kriegsende erste in Vietnam unter Beteiligung einer westlichen Künstlerin, wurde dann ein riesiges Medienthema. Ich war nicht mehr Veronika Radulovic, sondern »die Deutsche«, sollte Deutschland repräsentieren. Zur Eröffnung war sogar der Vizepräsident gekommen. Einige Lehrende der Kunsthochschule traten an mich heran und wünschten sich Informationen über moderne europäische Kunst. Sie baten mich, mit ihnen zu arbeiten.
Nach vier Monaten Verhandlungen zwischen der deutschen Botschaft, vietnamesischen und deutschen Stellen erhielt ich den ersten, zunächst auf ein Semester begrenzten Lehrauftrag. Versuchsweise sozusagen. Daraus sind letztlich zwölf Jahre geworden.
Sie hatten vorher schon Bildende Kunst in Ungarn gelehrt. Worin unterschied sich die Lehrtätigkeit in Vietnam von der in Ungarn?