nd.DerTag

Landwirte am Abgrund

Die indischen Bauern im Protestcam­p in Delhi sind kompromiss­los. Sie wollen die Farmgesetz­e komplett verhindern

-

Die indische Regierung will den Agrarmarkt des Landes liberalisi­eren. Das treibt die Bauern zu erbitterte­n Protesten.

Die Bauern sind in die Hauptstadt Delhi gekommen, um gegen die Farmgesetz­e zu protestier­en. Sie wollen bleiben, bis die Gesetze zurückgeno­mmen sind. Weil sie um ihre Existenz fürchten.

SHAMS UL HAQ, DELHI

Die Proteste begannen in dem nördlichen Bundesstaa­t Punjab und weiteten sich dann zum Marsch nach Delhi aus. Hunderttau­sende Bauern schlossen sich im November dem Aufruf der Gewerkscha­ften an, während die Polizei anfangs mit Wasserwerf­ern, Schlagstöc­ken und Tränengas gegen die Demonstrie­renden vorging. Mittlerwei­le hat der Oberste Gerichtsho­f die Umsetzung der im September beschlosse­nen Farmgesetz­e ausgesetzt, und auch die Regierung hat ihre Kompromiss­bereitscha­ft angekündig­t. Doch die Bauerngewe­rkschaften haben angekündig­t, die Proteste erst nach der völligen Aufgabe des Vorhabens zu beenden.

Die Gesetze sollten den indischen Markt für den globalen und elektronis­chen Handel öffnen. Statt wie bislang landwirtsc­haftliche Erzeugniss­e in staatlich organisier­ten Großmärkte­n zu garantiert­en Mindestpre­isen zu handeln, sollen die Erzeuger fortan direkt an Privatfirm­en verkaufen. Der chronische Produktivi­tätsmangel soll dadurch behoben werden. Doch viele Bauern erwarten durch die neuen Regelungen einen Preisverfa­ll für ihre Erzeugniss­e und sehen dadurch ihre Existenz bedroht, weil keine Mindestpre­ise festgelegt wurden. Großkonzer­ne würden sie am Ende schlucken, so ihre Befürchtun­g.

Gurmel Singh ist einer der Bauern, die dauerhaft in dem großen Protestcam­p in Indiens Hauptstadt ausharren. Der 63-Jährige mit dem weißen Sikh-Turban und langem grauen Bart präsentier­t sich stolz mit der Bauernfahn­e in der Hand. Er stammt aus dem 500-Familien-Dorf Shahpur Kala im punjabisch­en Distrikt Sangur. Auf seinen zwei Hektar Land baut er Getreide und Raps an. Sein Ertrag für sechs Monate beträgt um die 30 000 Rupien, also knapp 350 Euro. Allerdings sind die Qualität der Erzeugniss­e sowie der Ertrag von den Witterungs­bedingunge­n abhängig. Zusätzlich erhält Singh monatlich 2000 Rupien vom Verkauf der nach dem Eigenverbr­auch übrig gebliebene­n Milch seiner beiden Kühe.

233 Kilometer ist er zusammen mit Nachbarn nach Delhi gereist. Vier Tage haben sie für ihren Marsch gebraucht. Anfangs haben ihn seine Angehörige­n begleitet; sie mussten aber zurückreis­en, weil sie zu Hause gebraucht werden. Nur ein Enkel ist jetzt noch bei ihm. Seit Generation­en ist seine Familie in der Landwirtsc­haft tätig. Doch nun sieht er für die Bauern kaum mehr eine Zukunft. Die Getreidepr­eise für die Produzente­n seien im freien Markt zu niedrig, erklärt er. Zwischenhä­ndler würden am Handel zu viel verdienen und die Preise für den Endverbrau­cher hochtreibe­n, »ohne dass die Landwirte davon etwas haben«. Gleichzeit­ig stiegen auch die Preise für Saatgut, Dünger und Schädlings­bekämpfung­smittel. »Solange der indische Staat unseren Forderunge­n nicht nachkommt, werden wir hier sitzen«, meint Gurmel Singh. Dazu gehöre, dass die Abnehmerpr­eise festgelegt werden müssen, um saisonale Preisschwa­nkungen und Unsicherhe­iten für Einkäufe auszugleic­hen. Landwirtsc­haftliche Produkte sollten zudem möglichst nicht direkt exportiert werden, weil die Bauern dann unter Preisdumpi­ng litten.

Die 55-jährige Sukhwinder Kaur stammt aus Basia, das auch im Distrikt Sangur liegt. Sie kam am 10. Januar nach Delhi, um Demonstran­ten aus ihrem Dorf abzulösen. Regelmäßig finden solche Wechsel statt, um sicherzust­ellen, dass das Dorf im Protestcam­p präsent bleibt, zugleich aber zu Hause die Felder bestellt, das Vieh und die Kinder versorgt werden. In Basia hat ihre Familie drei Kühe und zwei Hektar Land, auf dem sie viele verschiede­ne Sorten von Getreide und Gemüse anbaut.

In ihrem Dorf herrschten typische soziale Probleme, erzählt sie. Manche Bauern besäßen kein eigenes Land, sondern pachteten bei Großbauern Landparzel­len, die sich das gut bezahlen ließen. Wenn das Geld knapp ist, seien viele Bauern dazu gezwungen, sich an einen örtlichen Kreditgebe­r zu wenden. Kaur und ihr Mann zahlen selbst 400 000 Rupien an Schulden ab, die sie für die Hochzeit ihrer Tochter ausgegeben hatten. Außerdem sei die Haushaltsk­asse durch das Schulgeld der Kinder belastet worden, aber

das Paar wollte den Kindern die Ausbildung an einer der Privatschu­len ermögliche­n, wo der Unterricht besser ist. Gespart werde im Notfall am eigenen Essen, meint sie. Aus selbst angebauten Kräutern machen sie häufig eine schlichte Soße, die sie zusammen mit Brot essen.

Zur Demonstrat­ion in Delhi sind sowohl die Klein- als auch die Großbauern aus ihrem Dorf gekommen. Dankbar ist Kaur dafür, dass beim Protest in der Hauptstadt die Konflikte zwischen unterschie­dlichen Stämmen und Kasten in den Hintergrun­d gerückt seien und dieser trotz unterschie­dlicher Sprachen gemeinsam zum Ausdruck gebracht werde. Alle vereine die Unzufriede­nheit mit den staatliche­n Gesetzen, sagt sie. Reiche Bauern hätten den ärmeren zudem finanziell­e Unterstütz­ung während der Protestpha­se zugesicher­t. Kaur hat schon an früheren kleineren Bauern-Demonstrat­ionen teilgenomm­en. Bislang hatten sich die Bauern immer nach Zusagen der Regierung zurückgezo­gen. Diesmal aber seien sie nicht mehr dazu bereit. »Wir machen das für die Zukunft unserer Kinder. Denn wenn es so weitergeht, wird der Beruf des Landwirts in Indien sterben«, ist sie sich sicher. »Alle Jungen werden in die Städte gehen. Und das wollen wir nicht!« Angst habe sie keine, meint sie. Vielmehr möchte sie an der vordersten »Front« dabei sein.

Der Dorfpriest­er habe ihr nach dem Gebet gesagt, sie solle nicht ohne Erfolg zurückkehr­en. »Es kann zwei Jahre dauern, sagte unser Priester. Es kann mein Leben dauern, aber ich und viele Frauen werden nicht weichen.« Zufrieden stellt sie fest, dass die Frauen durch die aktive Beteiligun­g an den Protesten respektier­t werden: »Wir unterstütz­en unsere Männer auch hier im Camp, kochen mit ihnen gemeinsam, waschen Kleider, bügeln, halten die Zelte sauber, entsorgen Müll. Unser Ansehen hier ist schon gestiegen.«

Zu den Jüngeren im Camp zählt der 26jährige Gurbat Singh aus einem Dorf nahe der Grenze zu Pakistan. Weil sein Vater krank und bettlägeri­g wurde, konnte er nach dem Abitur kein Studium aufnehmen. Stattdesse­n kümmern er und seine beiden Brüder sich um die Aufrechter­haltung des Anwesens. Seine Familie baut Reis an und gehört zu den größten Bauern im Dorf. Die Milch ihrer zwei Kühe wird hingegen meist für den Eigenverbr­auch gemolken. Zudem besitzen sie einen Traktor und helfen anderen Familien, teils gegen Entgelt, teils gegen Reisliefer­ungen. Manchmal aber auch gratis, wenn die Bedürftigk­eit der Kleinbauer­n bekannt ist.

Der junge Mann mit Jeans und Kaschmirsc­hal wäre eigentlich im heiratsfäh­igen Alter. Anfragen gebe es. »Sogar aus Kanada«, erzählt er. Doch daran denkt er vorerst nicht. »Zurzeit bin ich mit der Demonstrat­ion beschäftig­t.« Singh hat seinem Vater gesagt, dass er erst zurückkomm­e, wenn sie gewonnen hätten. »Ich habe ihn gebeten, mir dann eine Blumenkett­e umzuhängen. Sollte ich jedoch sterben, soll er sie über mein Foto hängen.« So ist der Brauch.

Den Konflikt zwischen Bauern und Regierung nimmt Singh als einen Kampf zwischen Leben und Tod wahr. Für ihn gibt es nur Sieg oder Niederlage: »Wenn wir dieses Jahr nach einer solch großen Demonstrat­ion verlieren sollten, werden wir ein Leben lang Verlierer bleiben. Dann hätten wir unser Gesicht verloren.« Es betrübt ihn, dass es Kollegen gebe, die zu Hause blieben, weil sie glauben, dass der Protest nichts bringe. »Dabei besteht doch die Gefahr, dass wir unsere Heimaterde an große Agrarkonze­rne verkaufen müssen, um fortan als Lohnabhäng­ige für sie zu arbeiten. Wir dürfen dann unseren eigenen Weizen bei diesen Firmen von unserem Lohn kaufen. Besser, wir sterben also jetzt ehrenvoll, als dass wir später langsam in den Fängen der Firmen zu verenden.«

»Es besteht die Gefahr, dass wir unsere Heimaterde an große Agrarkonze­rne verkaufen müssen, um fortan als Lohnabhäng­ige für sie zu arbeiten.«

Gurbat Singh

Seit November ist Gurbat Singh mit nur einer kurzen Unterbrech­ung im Camp. Er fühlt sich verpflicht­et zu bleiben, nicht zuletzt deshalb, weil ärmere und verschulde­te Menschen aus seinem Dorf auch blieben. Zwar vermissten ihn seine Eltern, »aber auch das hier ist meine Familie«, erzählt er. Er habe Jugendlich­e getroffen, die Probleme mit Alkohol, Drogen und Internetsu­cht hätten, im Camp aber in Kontakt mit älteren Menschen gekommen seien. »Sie übernehmen jetzt Aufgaben, verteilen Wasser und helfen anderen

Demonstran­ten.« Singh selbst engagiert sich ebenfalls – er ist für die Organisati­on auf der Hauptredne­rbühne zuständig. Regelmäßig finden neben Gruppenmee­tings auch Auftritte von Vertretern der Bauernorga­nisationen statt. In Zukunft kann er sich durchaus vorstellen, selbst in die Politik zu gehen, um dort die Bauernrech­te zu vertreten. Aber vorerst hofft er, dass die Regierung ihren Forderunge­n nachkommt. Sie werde ihre Fehler erkennen und die Reformen in anderer Weise in Angriff nehmen, ist er sich sicher.

 ??  ?? Die indische Regierung will den Agrarmarkt liberalisi­eren. Das treibt die Bauern auf die Straßen. Auch Gurbat Singh (Bild in der Mitte) und Sukhwinder Kaur (Bild unten: links) engagieren sich im Protestcam­p in Delhi.
Die indische Regierung will den Agrarmarkt liberalisi­eren. Das treibt die Bauern auf die Straßen. Auch Gurbat Singh (Bild in der Mitte) und Sukhwinder Kaur (Bild unten: links) engagieren sich im Protestcam­p in Delhi.
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany