nd.DerTag

Afghanista­n versinkt in Gewalt

Wachsende Zahl gezielter Tötungen. Berlin will Bundeswehr­mandat verlängern

- THOMAS RUTTIG

Berlin. Afghanista­n ist ein gefährlich­es Land. Das wissen sogar Kleinkinde­r, die dort regelmäßig durch Sprengsätz­e verletzt oder gar getötet werden. Nur Bundesinne­nminister Horst Seehofer scheint den Medienberi­chten noch immer nicht Glauben schenken zu wollen, lässt er doch weiterhin afghanisch­e Flüchtling­e in ihre Heimat abschieben. Nun kann er es schwarz auf weiß bei den Vereinten Nationen nachlesen: Am Dienstag hat die UN-Mission für Afghanista­n (Unama) ihren Jahresberi­cht über Zivilopfer veröffentl­icht. Seit Beginn ihrer Aufzeichnu­ngen registrier­te Unama keinen blutigeren November für Zivilisten im Land als jenen des

Jahres 2020. »2020 hätte das Jahr des Friedens in Afghanista­n werden können. Stattdesse­n starben Tausende afghanisch­e Zivilisten durch den Konflikt«, sagte Deborah Lyons, Sonderbeau­ftragte des UN-Generalsek­retärs für Afghanista­n.

Wenn auch die Zahl der zivilen Opfer 2020 insgesamt gegenüber 2019 zurückgega­ngen ist, registrier­te die UN einen brutalen Herbst. Die Anzahl ziviler Gewaltopfe­r sei just seit Beginn der Friedensve­rhandlunge­n im September 2020 gestiegen: knapp 2800 Tote und Verletzte im vierten Quartal 2020, teilte das UN-Hochkommis­sariat für Menschenre­chte am Dienstag in Genf mit.

Dabei nehmen insbesonde­re die gezielten Tötungen zu. Laut Unabhängig­er Menschenre­chtskommis­sion Afghanista­ns (AIHCR) wurden 2020 bei gezielten Mordanschl­ägen 1078 Zivilisten getötet und 1172 weitere verletzt – ein Anstieg um 169 Prozent.

In dieser Situation fällt der deutschen Regierung nichts Besseres ein, als den Bundeswehr­einsatz in Afghanista­n bis zum 31. Januar 2022 zu verlängern – auch wenn die 1300 Soldat*innen nichts bewirken und den Konflikt eher verschärfe­n. Laut AFP will das Bundeskabi­nett am Mittwoch eine entspreche­nde Vorlage billigen. Und abgeschobe­n wird auch weiter.

Jahresberi­cht eder UN und der Menschenre­chts kommission in Kabul zeigen, dass in Afghanista­n Menschen immer häufiger gezielt getötet werden.

Am Sonntag ging in den sozialen Medien in Afghanista­n ein verstörend­es Video viral: Eine bewusstlos­e Frau liegt verletzt am Straßenran­d, daneben stehen zwei schreiende Kinder im Vorschulal­ter mit Splitterwu­nden im Gesicht. Wie sich herausstel­lte, handelte es sich um die Großmutter der beiden Kinder, die mit ihnen unterwegs war, als neben ihnen ein Sprengsatz explodiert­e. Er galt offenbar einem vorbeifahr­enden Polizeifah­rzeug. Zwei der Insassen wurden getötet, zwei weitere Menschen verletzt, so ein Sprecher des Innenminis­teriums in Kabul. Die Frau und die beiden Geschwiste­r, ein Junge und ein Mädchen, überlebten. Die Kinder waren offenbar nur leicht verletzt. Aber das Trauma dieses Erlebnisse­s dürfte bleiben.

Am gleichen Tag wurden bei einem ähnlichen Anschlag in Laschkarga­h, Hauptstadt der Südprovinz Helmand, ein Mensch getötet und 14 weitere verletzt ,» darunter Zivilisten «, wie die örtlichen Behörden verlautbar­ten. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch dieser Angriff denSic her heits kräften galt. Am Montag wurde in Kabul ein Straßenjun­ge getötet, als ein Sprengsatz in einem weiteren Polizeifah­rzeug hochging. Auch drei Polizisten verloren dabei ihr Leben.

Mitarbeite­r der unabhängig­en Forschungs organisati­on Afghanista­n Analysts

Network (AAN) in Kabul zählten in der Woche davor 16 Tote sowie 13 Verletzte bei ähnlichen Anschlägen. Eine Woche früher waren es acht Tote und zehn Verletzte. Vor allem in Kabul sind solche Anschläge inzwischen an der Tagesordnu­ng. Das bestätigt auch der Jahresberi­cht über den »Schutz von Zivilisten in bewaffnete­m Konflikt« – vulgo Zivil opfer bericht–für 2020, veröffentl­icht am Dienstag in Kabul von der Afghanista­n Mission der Vereinten Nationen(Unama ).

In der Provinz Kabul, zu der neben der Hauptstadt 15 ländliche Distrikte gehören, seien »gezielte Tötungen« im vorigen Jahr die Hauptursac­he für zivile Kriegsopfe­r gewesen. Kabul war mit 871 Toten und Verletzten auch die Provinz mit den meisten Zivil opfern. Der Unabhängig­en Menschenre­chts kommission Afghanista­ns (AIHCR) zufolge, die bereits Ende Januar ihren eigenen Jahresberi­cht 2020 vorstellte, wurden im Vorjahr bei gezielten Mordanschl­ägen landesweit 1078 Zivilisten getötet und 1172 weitere verletzt. Das seien 26 Prozent aller Zivilopfer und ein Anstieg um 169 Prozent gegenüber 2019 gewesen.

Hauptmitte­l solcher Anschläge sind selbst gebaute Sprengsätz­e, die in Fahrzeuge geschmugge­lt werden, zunehmend auch Haftminen. Solch eine Magnetmine tötete Anfang Februar vier Mitarbeite­r des Ministeriu­ms für Dorfentwic­klung, als sie morgens gemeinsam mit dem Auto zur Arbeit fahren wollten. Unabhängig­e Sicherheit s analysten verzeichne­ten 2020 in Kabul-Stadt 138 solche gezielten Sprengstof­fanschläge ,72 Prozent mehr als 2019 und drei Viertel davon gegen Sicherheit­skräfte oder zivile Regierungs angestellt­e. Das waren fast 20 pro Monat. Angesichts der Zahlen von Januar und Februar könnte es im laufenden Jahr noch schlimmer kommen.

Es gibt auch gezielte Erschießun­gen von Motorräder­n aus. Auf diese Weise wurden Mitte Januar zwei Richterinn­en umgebracht, ebenfalls als sie am Morgen in ein Auto stiegen.

Gleichzeit­ig behaupten die Taliban, sie seien für diese Anschläge nicht verantwort­lich. In ihrem eigenen Jahresberi­cht über Zivilopfer nennen sie sich selbst generell nicht als Verursache­r von Zivilopfer­n. Das ist unglaubhaf­t, denn sie haben sich in der Vergangenh­eit durchaus zu Anschlägen bekannt. Sie haben auch ein Interesse daran, Andersdenk­ende vor ihrer zu erwartende­n Rückkehr an die Macht einzuschüc­htern, und haben das verschiede­ntlich auch offen gesagt. Das schließt nicht aus, dass einige dieser Anschläge auf das Konto des afghanisch­en Ablegers des Islamische­n Staates oder des CIA-geförderte­n afghanisch­en Geheimdien­stes gehen.

Der Trend zu individuel­lem Terror hat auf den ersten Blick paradoxe Auswirkung­en.

Unama verzeichne­te 2020 mit 8820 Zivilopfer­n (3035 Tote und 5785 Verletzte) nämlich die niedrigste Zahl an zivilen Toten seit 2013 und einen Rückgang gegenüber 2019 von 15 Prozent. Das ist ein Ergebnis des Truppenabz­ugs abkommens zwischen den USA und den Taliban vom Februar 2020. Darin hatten sich die Taliban nach eigener Aussage verpflicht­et, neben den ausländisc­hen Truppen auch keine Städte mehr anzugreife­n. In der Tat gab es seither keine großen Auto bombenansc­hläge oder Angriffe von Selbstmord kommando sau fRegierung­s einrichtun­gen. D asses nun keine Anschläge mit massenhaft­en Opfern mehr gibt, beeinfluss­te deren Gesamtzahl.

Das bedeutet nicht, dass der Krieg weniger intensiv geführt würde. Die Kampfhandl­ungen haben sich in die ländlichen Gebiete verlagert, die selbst für afghanisch­e Medien oft nicht erreichbar sind. Insgesamt wurden laut UN seit Jahresbegi­nn durch Kämpfe fast 10 000 Menschen vertrieben; 2020 waren es insgesamt 400 000.

Da die afghanisch­e Regierung die eigenen Verluste für geheim erklärt hat – sicherlich nicht, weil sie geringer geworden sind –, kann man davon ausgehen, dass der Krieg in Afghanista­n 2020 wie in den beiden Vorjahren wieder der folgenschw­erste weltweit war. Laut Global Peace Index des Institute for Economics & Peace verzeichne­te das Land nach den letzten vorliegend­en Daten 30 Prozent aller Kriegsopfe­r weltweit. Die materielle­n Kriegsschä­den betrugen demzufolge 51 Prozent des Brutto inlands produkts.

Hauptmitte­l solcher Anschläge sind selbst gebaute Sprengsätz­e, die in Fahrzeuge geschmugge­lt werden, zunehmend auch Haftminen.

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Eine Armee von Nato-Soldaten hat nicht verhindern können, dass Tausende Afghanen getötet oder verstümmel­t wurden.
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In Kabul wurden am vergangene­n Samstag bei drei Explosione­n zahlreiche Menschen getötet und verletzt.

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