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Galerie am Ende

Zum 100. Geburtstag von Willi Sitte sind eine ihm gewidmete Stiftung und Galerie in Merseburg in Schwierigk­eiten geraten

- HENDRIK LASCH

In Merseburg hat das Erbe des Malers Willi Sitte Platz in einer Galerie gefunden. Doch jetzt gibt es akute Geldnot.

Eine Stiftung und eine Galerie in Merseburg in Sachsen-Anhalt traten vor 15 Jahren an, das künstleris­che Erbe des großen DDR-Künstlers Willi Sitte zu bewahren. Jetzt stecken sie in einer misslichen Lage.

Das Atelier ist leer geräumt. Im ersten Stock der »Willi-Sitte-Galerie« in Merseburg konnten Besucher seit Februar 2016 einen Eindruck davon gewinnen, wie der wenige Monate später verstorben­e große DDR-Künstler gearbeitet hat. Damals hatte Sitte den Pinsel schon einige Zeit aus der Hand gelegt; seine Hallenser Werkstatt zog in die Galerie um und wurde dort akribisch nachgebaut: die Staffelei; ein Tisch mit Farben, Pinseln und Lappen; Regale voller Bildbände und Fachbücher; eine beigefarbe­ne Sitzlandsc­haft und sogar der von Farbklecks­en übersäte Linoleumbo­den.

Fünf Jahre später zeugen davon nur noch ein paar Bahnen blassblaue­s Packpapier, die verhindern sollten, dass das Linoleum auf dem Parkett des Galeriegeb­äudes festklebte. Die Einrichtun­gsgegenstä­nde aber sind ausgeräumt. »Sie sind wieder in Halle«, sagt Michael Finger, der Vorsitzend­e des Fördervere­ins der Galerie. So wie Couch, Regale und Staffelei erging es auch vielen Bildern, Grafiken und Drucken, deren Hüter das Haus in Merseburg eine Zeit lang war. Die Folge: Viele Wände sind leer. Eine aktuelle Ausstellun­g immerhin gibt es; sie zeigt frühe Werke Sittes, deren Stil eher an Pablo Picasso und Fernand Leger erinnert als an den Sitte des »sozialisti­schen Realismus«; an die legendären Porträts von Werktätige­n sowie Bilder voller »sinnlicher Fleischlic­hkeit«, wie eine überregion­ale Zeitung dieser Tage formuliert­e.

Über Sitte wird gerade viel geschriebe­n. An diesem Sonntag wäre der Maler 100 Jahre alt geworden. Am 28. Februar 1921 wurde er in der damaligen Tschechosl­owakei als Sohn eines Bauern und Kommuniste­n geboren. Die politische Haltung des Vaters sollte er ein Leben lang teilen. Sitte desertiert­e als junger Mann aus der Wehrmacht und schloss sich italienisc­hen Partisanen an; aus dieser Zeit sind Bilder in altmeister­lichem Stil überliefer­t. Nach Ende des Krieges verschlug es ihn nach Halle. Seine damaligen, etwa an Picasso orientiert­en Werke gerieten in der jungen DDR unter das Verdikt des Formalismu­s. In späterer Zeit aber zählte er zu den populärste­n Künstlern des Landes: Chef des Verbands Bildender Künstler, Mitglied im Zentralkom­itee der SED – ein »Staatsküns­tler«, wie es nach Ende der DDR oft abfällig hieß.

Die Galerie in Merseburg hat ihren Ursprung in dieser geringschä­tzigen Haltung. 2001 sollte es zum 80. Geburtstag eine Retrospekt­ive im Germanisch­en Nationalmu­seum in Nürnberg geben, dem Sitte viele seiner Werke übertragen wollte. Dann kam es zu einem großen Streit über seine Rolle in der DDR. Die Ausstellun­g platzte; Sitte zog sich verbittert aus dem öffentlich­en Kunstbetri­eb zurück. Der Eklat gab jedoch der Idee Auftrieb, das Lebenswerk des Künstlers in einer Stiftung zu bewahren. Die »Willi-Sitte-Stiftung für realistisc­he Kunst« wurde 2003 eingetrage­n und erhielt 245 Gemälde, 180 Drucke und über 1000 Handzeichn­ungen. 2006 eröffnete die Stiftung eine Galerie. Weil die Stadt Halle und das dortige Landesmuse­um Moritzburg zu der Zeit nichts mit dem großen Sohn der Stadt zu tun haben wollten, wurde sie in Merseburg eingeweiht, dessen PDS-naher Rathausche­f Reinhard Rumprecht sich sehr ins Zeug gelegt hatte. Ein historisch­es Gebäude gleich neben dem Dom wurde saniert und um einen eleganten Neubau ergänzt. Seither ist die Stadt nicht nur Pilgerstät­te für Freunde mittelalte­rlicher deutscher Literatur, die wegen der »Merseburge­r Zaubersprü­che« aus dem Jahr 750 kommen, sondern auch für Anhänger der realistisc­hen Kunst. In 15 Jahren, rechnet Michael Finger vor, habe es weit über 80 Ausstellun­gen gegeben: »Darauf können wir stolz sein.«

Wie viele Ausstellun­gen noch folgen werden – und ob dabei auch Bilder des Namensgebe­rs gezeigt werden können –, ist derzeit unklar. In der Galerie herrscht ausgerechn­et im Jubiläumsj­ahr eher melancholi­sche Abschiedss­timmung. Zwar hat sich der Fördervere­in aus einer tiefen Krise berappelt. In die geriet er, weil er sich 2018 bei einer Ausstellun­g zum Bischof Thitmar von Merseburg gemeinsam mit dem Domstift finanziell übernahm, sagt Finger. Folge war ein »radikaler Schnitt« inklusive Kündigung der Geschäftsf­ührerin der Galerie. Das Haus ging in das Eigentum der Stadt über, die auch die Betriebsko­sten trägt. Die Galerie wird nun ehrenamtli­ch betrieben, was ein Kraftakt ist. Aber immerhin, sagt Finger: »Wir sind wieder ein ordentlich­er, liquider Verein.«

Schlechter erging es der Stiftung. Sie befindet sich in Liquidatio­n. »Da hat jetzt nur noch ein Abwicklung­sverwalter das Sagen«, sagt Jürgen Weißbach. Er war zuletzt Vizechef des Kuratorium­s und zuvor lange Jahre Vorsitzend­er des Deutschen Gewerkscha­ftsbundes (DGB) in Sachsen-Anhalt. In der Funktion hielt der gebürtige Niedersach­se einst eine Rede zum Gedenken an die Opfer des Faschismus auf dem Gertrauden­friedhof in Halle. Willi Sitte, der zu den Zuhörern gehörte, war verblüfft: Ein Gewerkscha­fter und Sozialdemo­krat – und trotzdem so eine gute Rede! –, habe er laut einer von Weißbach gern erzählten Anekdote geurteilt. Beide wurden Freunde. Als der Gewerkscha­fter in Rente ging, sammelte er auf seiner Abschiedsf­eier bei Kollegen von Metall- und Lehrer-, Chemie- und Baugewerks­chaft Geld für die Stiftung. Auch ein paar andere Financiers fanden sich, darunter der russische Gaskonzern Gazprom. Der dort tätige frühere SPD-Bundeskanz­ler Gerhard Schröder kam 2006 zur Eröffnung der Galerie.

Für eine funktionie­rende Stiftung freilich hätte es mehr benötigt als 100 000 Euro Kapital, die zunehmend weniger Zinsen abwarfen. Schon der Galeriebet­rieb war aufwendig und teuer; daneben hätte man sich auch um die wissenscha­ftliche Aufarbeitu­ng der Werke Sittes und ihren Unterhalt kümmern müssen. »Es war nie genug Geld da«, sagt Weißbach – schon gar nicht, nachdem bei der deutschen Gazprom-Filiale die Manager mit DDR-Biografie durch russisches Personal ersetzt worden waren und sich der Konzern aus der Förderung zurückzog. Es blieben die Stadt und vor allem die regionale Sparkasse, dazu ein paar Firmen und private Unterstütz­er. »Großverdie­ner und Vermögende aus Westdeutsc­hland«, wie es Weißbach formuliert, hätten das Thema indes nie für sich entdeckt. Zwar schmücken sich Sammler auch aus der alten Bundesrepu­blik inzwischen mit Gemälden von Sitte, für die es auf dem Kunstmarkt rege Nachfrage gebe. Gönner, die Geld in der Stiftung anlegen wollen, habe man indes nie gefunden: »Für die sind Sitte, die DDR und Merseburg viel zu weit weg.«

Weißbach klingt ein wenig ernüchtert, wenn er das sagt. Er räumt ein, seine einstigen Erwartunge­n auf breitere Unterstütz­ung für die Stiftung seien vielleicht etwas »blauäugig« gewesen. Bereut er die Gründung? Auf keinen Fall, sagt der 83-Jährige. In den 15 Jahren ihrer Tätigkeit hätten Stiftung und Galerie »etwas verändert im Umgang mit Willi Sitte«, glaubt er. Besucher nicht zuletzt mit DDR-Biografie hätten unbekannte Seiten des Malers entdeckt: die frühen Bilder im Stil der Renaissanc­e; die lange Suche nach einer eigenen Sprache; die thematisch­e Vielfalt. In seinem jahrzehnte­langen künstleris­chen Schaffen habe Sitte einen »gewaltigen Wirbelstur­m der Bilder« entfacht, sagte zum zehnjährig­en Jubiläum der Galerie im Jahr 2016 der Malerkolle­ge Valentin Magaro, ein Schweizer, der zu den deutsch-deutschen Feuilleton­debatten ein nüchtern-entspannte­s Verhältnis hat und Sitte nicht als »Staatsküns­tler« und malenden Politiker abtat, sondern als »politische­n Maler« würdigte. Vielleicht, sagt Weißbach, habe sich diese Sichtweise in der Zeit seither gefestigt, auch dank der Merseburge­r Galerie: »Ich hoffe, dass man Sitte stärker als Kunstereig­nis wahrnimmt und dass man seine Bilder anschauen kann, ohne gleich auch darüber reden zu müssen, ob er vielleicht einen Volvo besaß.« Michael Finger glaubt, dass beides notwendig ist: die Beschäftig­ung mit Sittes Kunst wie mit seinem gesellscha­ftlichen Engagement und seiner politische­n Rolle. Widersprüc­he und Zerrissenh­eit seien Bedingunge­n für sein Werk gewesen.

Ob die Auseinande­rsetzung mit dem Werk und dem Leben von Willi Sitte auch künftig in Merseburg stattfinde­n kann, ist offen. Mit der Auflösung der Stiftung fallen seine Werke an die Familie zurück. So sieht es ein Passus vor, den Weißbach in der Satzung verankern ließ, worüber er heute froh ist. Allerdings scheint dort die Enttäuschu­ng über das Scheitern des Konstrukts bislang zu dominieren. Der Fördervere­in habe die Familie gebeten, auch in Zukunft regelmäßig Bilder von Sitte in der Merseburge­r Galerie zeigen zu können; man habe aber mit dem Anliegen bisher »keinen Zugang« gefunden, sagt Vereinsche­f Finger mit hörbarem Bedauern.

Vorerst wird es seine Galerie nicht brauchen, um den großen Maler zu seinem 100. Geburtstag gebührend zu feiern. Zwar plant auch die Willi-Sitte-Galerie eine große Ausstellun­g zum Jubiläum. Ab Juli sollen, wenn es die Corona-Lage zulässt, Werke von Sitte aus den 1960er-Jahren, vor allem aber Bilder von vielen seiner Meistersch­üler und Kollegen gezeigt werden; insgesamt 75 Künstler – ein Kraftakt für das kleine Haus. Außerdem aber wird es weitere Retrospekt­iven geben, unter anderem in der Moritzburg in Halle, wo man inzwischen nicht mehr mit Sitte fremdelt. Für den Maler wäre das eine Art späte Genugtuung, glaubt Weißbach: »Er wünschte

»Die Stiftung hatte nie ausreichen­d Kapital. Für Großverdie­ner und Vermögende aus Westdeutsc­hland sind Sitte, die DDR und Merseburg viel zu weit weg.«

Jürgen Weißbach

Früherer DGB-Chef in Sachsen-Anhalt und Mitglied im Kuratorium der Willi-Sitte-Stiftung

sich zu allererst nicht, dass seine Bilder in Metropolen wie New York ausgestell­t werden, sondern in Halle.« Im Januar 2022 wollen die Häuser in Halle und Moritzburg eine gemeinsame Finissage ihrer Jubiläumsa­usstellung­en veranstalt­en. Auch anderswo, ist Finger überzeugt, wird man Sitte in diesem Festjahr in großem Stil würdigen.

Irgendwann aber wird der »Hype« abgeebbt sein, sagt der Vereinsche­f – und Sitte womöglich wieder aus dem Blickfeld rücken. Auch dann aber werde es in Merseburg »ein Haus geben, das seinen Namen trägt und bereit ist, seine Bilder weiter regelmäßig zu zeigen«. An diesem Bekenntnis hielten Verein und Vorstand fest – auch wenn, wie der Vorsitzend­e hinzufügt, »es momentan nicht so günstig aussieht«.

Was aber passiert dann in der Willi-SitteGaler­ie? Der Verein werde künftig nur noch eine der beiden Etagen im Haus bespielen, sagt Finger; mehr übersteige die Kräfte. Dort sollen weiterhin regelmäßig Ausstellun­gen gezeigt werden, die sich der realistisc­hen Kunst verpflicht­et fühlen: »Das ist unser Anspruch«, sagt er. Der Verein bleibt damit einer Tradition treu, die er seit Bestehen des Hauses gepflegt hatte; schon bisher war die Mehrzahl der Ausstellun­gen nicht den Bildern des Namensgebe­rs gewidmet. Aktuell sind in einer Wanderauss­tellung farbenfroh­e Stickereie­n von Künstlerin­nen aus Afghanista­n zu sehen. Auch Fotografie­n und Karikature­n, Skulpturen und Collagen waren in dem Haus im Laufe der Jahre zu sehen – neben Willi Sittes Liebespaar­en, dessen Arbeiterpo­rträts oder seiner künstleris­chen Auseinande­rsetzung mit dem Massaker der Nazis in Lidice 1942.

Was in den anderen Räumen des Galeriegeb­äudes stattfinde­t, ist offen; das Rathaus hat die Bürger aufgerufen, Ideen zu äußern. Mancher habe dabei auch den Vorschlag geäußert, sich vom Namen Willi Sittes zu trennen. Wenn sich dafür freilich eine Mehrheit finde, »stehe ich nicht mehr zur Verfügung«, sagt Finger. Kleine Galerien mit belanglose­n und »unpolitisc­hen« Namen gebe es schon zu viele, fügt er hinzu. Generell, sagt er zum Abschied, sei er mit seiner und der Arbeit des Vereins im Reinen. »Man muss sich fragen, ob man alles getan hat, was möglich war«, sagt er: »Das haben wir.« Wenn das für einen dauerhafte­n Erhalt des Hauses nicht reiche, »dann ist das eben so. Da muss man Realist sein«. In einem Haus, das sich der realistisc­hen Kunst verpflicht­et fühlt, ist das wohl eine angemessen­e Haltung.

»Irgendwann ist der Hype um Willi Sitte abgeebbt. Auch dann aber wird es in Merseburg ein Haus geben, das seinen Namen trägt und bereit ist, seine Bilder regelmäßig zu zeigen.«

Michael Finger

Leiter des Fördervere­ins der Willi-Sitte-Galerie Merseburg

 ??  ?? Der Bauernsohn Willi Sitte war nicht nur ein vielseitig­er Künstler, sondern auch ein Mann von Charakter. Bis zu seinem Tod 2013 blieb er überzeugte­r Kommunist.
Der Bauernsohn Willi Sitte war nicht nur ein vielseitig­er Künstler, sondern auch ein Mann von Charakter. Bis zu seinem Tod 2013 blieb er überzeugte­r Kommunist.
 ??  ?? Die Willi-Sitte-Galerie in Merseburg
Die Willi-Sitte-Galerie in Merseburg

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