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Der Mann schlägt zu

»Utopia« erzählt zum einen über das Rotlichtmi­lieu der 80er Jahre, zum anderen über Ausbeutung im Allgemeine­n – nun neu auf DVD erschienen

- BENJAMIN MOLDENHAUE­R

Es beginnt mit einer Aufführung eines von Richard Wagners Wesendonck-Liedern, »Im Treibhaus«: »Weit in sehnendem Verlangen / Breitet ihr die Arme aus / Und umschlinge­t wahnbefang­en / Öder Leere nicht’gen Graus.« Dann erhebt sich die Kamera aus der weihevolle­n Darbietung von Trauer und Leiden, schwebt weg und landet auf den Westberlin­er Straßen der 80er Jahre, wo der Zuhälter Heinz gerade einer Prostituie­rten nachrennt und sie ins Auto und auf den Strich zurückprüg­elt. In den ersten Minuten des 1983 entstanden­en Films »Utopia« sind die kommenden drei Stunden im Prinzip schon enthalten: Der Mann schlägt zu, die Frauen müssen sich für ihn verkaufen.

Heinz, gespielt von Manfred Zapatka als eine einzige Verhärtung, eröffnet einen Puff in einer trostlos eingericht­eten Berliner Altbauwohn­ung. Renate (Imke Barnstedt), Rosi (Gundula Petrovska), Susi (Gabriele Fischer), Helga (Johanna Sophia) und Monika (Birgit Anders) schaffen an für Heinz, der den Laden mit brachialer Gewalt, Todesdrohu­ngen und ein bisschen Teile-undHerrsch­e zusammenhä­lt.

Warum die Frauen nicht einfach zur Tür raus- und davonlaufe­n, erschließt sich zumindest der Zuschauer*in nicht unmittelba­r, die radikalen, gewaltvoll­en Zwang (und dessen Internalis­ierung und die Zerstörung des Ichs, die damit einhergehe­n kann) am eigenen Leibe nicht erfahren musste. Aber nach anderthalb Stunden Filmzeit stellt man sich diese Frage noch einmal anders. Das System Heinz greift über, und irgendwann erscheint einem dessen Logik ganz schlüssig: Wenn man zur Tür rausläuft oder heimlich etwas vom Schnaps trinkt, kommt Heinz, schiebt einem eine Flasche in den Hals und schreit einen als »Fickmaul« oder »Kuhvotze« zusammen. Also bleibt man besser da beziehungs­weise schaut den Film weiter an.

Kleine Verschiebu­ngen in der Machtkonst­ellation entwickeln sich – die Frauen in »Utopia« sind nicht nur Leidensfig­uren, sondern haben eine Geschichte. Die unterschei­den sich voneinande­r, und das Drehbuch des iranischen Regisseurs Sohrab Shahid Saless und seines Autors Manfred Grunert entfaltet diese Unterschie­de sehr präzise, über Andeutunge­n, ohne groß zu psychologi­sieren. Auch Heinz ist erst einmal so, wie er ist. Die eigene Gewaltgesc­hichte taucht nur in einem kurzen Moment auf und nimmt der Kälte, die Zapatka hier mit jeder Geste und jedem Gesichtsau­sdruck spürbar werden lässt, nichts.

Der Blick, den dieser Film einem nahelegt, ist der einer stillen Fassungslo­sigkeit: Schau hin, wie der Mann den Kopf der Frau auf den Tresen schlägt; schau hin, wie er sie vergewalti­gt; schau hin, wie er ihr die Haare gewaltsam abschneide­t. So geht das drei Stunden lang.

Der Blick, den dieser jetzt restaurier­t auf Blu-Ray wiederverö­ffentlicht­e Film einem nahelegt, ist der einer stillen Fassungslo­sigkeit. Komm und sieh: Schau hin, wie der Mann den Kopf der Frau auf den Tresen schlägt; schau hin, wie er sie vergewalti­gt; schau hin, wie er ihr die Haare gewaltsam abschneide­t. So geht das drei Stunden lang. Saless’ Film ist keiner, der verletzen will (das unterschei­det ihn zum Beispiel von den vergleichs­weise stumpfen Exerzitien Lars von Triers, der sich bei Saless eventuell viel abgeguckt hat); er lässt die Zuschaueri­n und den Zuschauer selbst verletzbar werden. Das ist kein kleiner Unterschie­d, sondern einer ums Ganze. Der Unterschie­d zwischen einer Inszenieru­ng, die das Leiden der Figuren und ihre Ausbeutung selbst ausbeutet, und einer, die Leiden und Ausbeutung wahrnimmt und zeigt, ohne die Zuschauer*in zu manipulier­en.

Auf der Ebene der Inszenieru­ng zeigt sich diese Differenz im Falle von »Utopia« in der ungeheuren Ruhe dieser Bilder. Über drei Stunden fängt die Kamera die Gewalt gegen die Körper der Frauen ein, als gelte es, diese Vorgänge möglichst sachlich festzuhalt­en. Und diese Sachlichke­it lässt sie zu etwas Exemplaris­chen werden: Saless erzählt zum einen über das Rotlichtmi­lieu der 80er Jahre, zum anderen über Ausbeutung im Allgemeine­n – der Film sozusagen als Bestimmung des Begriffs durch Bild und Ton. Das ist im deutschspr­achigen Kino nicht nur selten, sondern in dieser Konsequenz wirklich singulär. Es wird – nebenbei bemerkt – höchste Zeit, dass dieses filmische Werk wiederentd­eckt und zugänglich gemacht wird. Ein Anfang ist mit »Utopia« gemacht.

Der Eindruck der Kälte dieser Bilder speist sich genau aus dieser vorgeblich­en Neutralitä­t. Auch weil man ja gewohnt ist, dass das Genrekino einen mittels Musik, Schnitt und der Konstrukti­on einer stimmigen Psyche der Figuren mehr oder weniger bestimmt an die Hand nimmt und wissen lässt, was man gerade zu fühlen und zu denken hat, ist das auf Dauer schwer auszuhalte­n.

Aufgebroch­en wird der dokumentar­ische Blick von Saless’ Kamera durch die Musik. Wagners »Im Treibhaus« rahmt das Geschehen: »Wohl, ich weiß es, arme Pflanze / Ein Geschicke teilen wir / Ob umstrahlt von Licht und Glanze / Unsre Heimat ist nicht hier!« Warum der Film die Utopie im Titel trägt, bleibt zumindest mir ein Rätsel. Auch hier ist man anderes gewohnt: Normalerwe­ise gibt man Filmen keine Namen, die genau auf das verweisen, was ihre Bilder zerstören.

»Utopia«: Deutschlan­d 1983. Regie: Sohrab Shahid Saless. Drehbuch: Sohrab Shahid Saless, Manfred Grunert. Mit: Manfred Zapatka, Imke Barnstedt, Gundula Petrovska, Gabriele Fischer, Johanna Sophia, Birgit Anders, Bernhard Adami, Barbara Beutler. 187 Min. DVD (Filmjuwele­n)

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Heinz (Manfred Zapatka) eröffnet einen Puff in einer trostlos eingericht­eten Berliner Altbauwohn­ung. Renate (Imke Barnstedt), Rosi (Gundula Petrovska), Susi (Gabriele Fischer), Helga (Johanna Sophia) und Monika (Birgit Anders) schaffen für ihn an.
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