nd.DerTag

Zwischen Marxismus und Mystik

Eine kenntnisre­iche Mehrperson­enbiografi­e arbeitet die Geschichte der Familie Scholem auf

- GEORG LEISTEN

Das Grab liegt ganz hinten. Arthur Scholem war der Letzte der Familie, der auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beerdigt wurde. Ehefrau und Kinder starben weit weg von der ursprüngli­chen Heimat. Eine später auf dem Grabstein hinzugefüg­te Inschrift erinnert an sie. Die eingemeiße­lten Namen sind die beinahe einzige Gedächtnis­spur, die Berlin von Arthur Scholems Nachfahren geblieben ist. Die unbarmherz­igen Zeitläufte des 20. Jahrhunder­ts haben die Familie auseinande­rgerissen und von Buchenwald bis Sidney versprengt­e Schicksale zurückgela­ssen. Wie Puzzlestei­ne fügt sie der US-Historiker Jay H. Geller nun in seiner kenntnisre­ichen Mehrperson­enbiografi­e »Die Scholems« zusammen. Der Dynastie von Druckereib­esitzern, die wohl kurz nach 1812 aus Niederschl­esien ins aufstreben­de Berlin zog, entstammte nicht nur der berühmte Religionsp­hilosoph Gershom Scholem (1897– 1982). Auch sein Bruder Werner Scholem machte in den 1920ern von sich reden – als einer der führenden Köpfe der KPD.

Den Lesern bietet Gellers Buch zweierlei: Zum einen spiegelt der Autor deutsch-jüdische Geschichte zwischen

Monarchie und Faschismus im Mikrokosmo­s einer Familie. Zum anderen wird deutlich, dass ein identische­s Milieu individuel­l unterschie­dliche Denkformen hervorzubr­ingen vermag. Obwohl alle vier Scholem-Söhne dieselbe bürgerlich behütete Kindheit erlebten, entwickelt­en sie sich in unterschie­dliche Richtungen. Der ökonomisch­en Natur Erichs und Reinholds, die im väterliche­n Betrieb mitwirkten und die liberalkon­servative Position des Vaters teilten, traten Gershom und Werner als intellektu­elle Eigenbrötl­er und Abweichler entgegen.

Es beginnt in der Belle Epoque. Vater Scholem versteht sich als assimilier­ter Jude, isst nicht koscher und denkt deutschnat­ional. Die beiden jüngsten Söhne lehnen den angepasste­n Patriotism­us ab, um nach einer weltanscha­ulichen Alternativ­e zu suchen. Werner findet sie in der Sozialdemo­kratie. Anfangs verehrt er Kautsky und Bebel. Später, als eine zahnlos gewordene SPD die Kriegskred­ite bewilligt, wechselt er auf die Seite Rosa Luxemburgs. Gershom wiederum kehrt zum jüdischen Erbe der Vorfahren zurück. Er lernt Hebräisch, verschling­t die Schriften der Rabbis und kämpft für das zionistisc­he Projekt eines jüdischen Nationalst­aats in Palästina. Den Marxismus Werners teilt er zwar nicht, bleibt dem Bruder aber emotional eng verbunden. Dessen politische Haltung sorgt oft für Streit im Hause Scholem. Zum Eklat kommt es 1917. Werner wird verhaftet, er hat bei einem Fest zum Kaisergebu­rtstag »Hoch Liebknecht!« gerufen. Weil Gershom den Bruder verteidigt, setzt der tobende Vater auch ihn vor die Tür.

Geller hat Quellen und Fachlitera­tur penibel studiert. So gelingt ihm eine angenehm lesbare Mischung aus Ereigniser­zählung, Charakterp­orträts und geschichtl­icher Reflexion. Stilistisc­h elegant springt der Text zwischen den Perspektiv­en der behandelte­n Personen hin und her. Dass der Autor den bieder gestrickte­n älteren Brüdern von Werner und Gershom nicht ganz so nahe kommt, liegt letztlich an der knapperen Quellenlag­e.

Trotz ideologisc­her Differenze­n bleibt der Zusammenha­lt der Familie stark. Obschon Gershom den vom Vater belächelte­n »judëo-semitische­n Kram« zum Beruf macht, kann er weiter auf elterliche Unterstütz­ung zählen. Mit seiner Übersiedlu­ng nach Palästina verwirklic­ht sich der junge Gelehrte in den 1920er Jahren den Jugendtrau­m. Seine Studien zu Mystik und Kabbala leisten wissenscha­ftliche Pionierarb­eit. Farbig schildert Geller die Atmosphäre im aufkeimend­en Staat Israel. Neben Konflikten mit der britischen Mandatsmac­ht und den Arabern gibt es Differenze­n innerhalb der jüdischen Bevölkerun­g.

Wer nach 1933 aus dem Hitlerstaa­t floh, wurde von zionistisc­hen Siedlern früherer Einwanderu­ngswellen keineswegs brüderlich empfangen. »Kommen Sie aus Überzeugun­g oder aus Deutschlan­d?«, lautete ein beliebter Scherz über die Neuankömml­inge, die auch durch landesunty­pische Kleidung und teutonisch­e Ernährungs­gewohnheit­en auffielen.

Anders als die Mutter und die Brüder schaffte Werner es nicht, Deutschlan­d rechtzeiti­g zu verlassen. In der KPD war er zuletzt isoliert. Als Organisati­onsleiter sah man ihn als Verantwort­lichen für den Beschluss, bei der Wahl zum Reichspräs­identen 1925 einen chancenlos­en Ernst Thälmann in die zweite Runde zu schicken, was dem Reaktionär Hindenburg und letztlich auch den Nazis half. Am Ende hat Werner seine Entscheidu­ng wohl selbst bereut. Nach einer Odyssee durch faschistis­che Gefängniss­e und Konzentrat­ionslager wurde er 1940 in Buchenwald laut Aktennotiz »auf der Flucht erschossen«. Die genauen Umstände liegen im Dunkeln. Sogar der Denkstein in Berlin-Weißensee nennt ein falsches Todesdatum.

Jay H. Geller: Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie. Jüdischer Verlag/Suhrkamp, 463 S., geb., 25 €.

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