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Bilder vom Fallen und Schwinden

Sighard Gille wird heute 80 und ist vielleicht auf dem Weg zum Maler der Apokalypse

- PETER RICHTER

Wie es genau anfing, ist schwer auszumache­n, aber etwa um 2006 begannen die Figuren und Objekte in Sighard Gilles Gemälden zu fallen und zu schwinden. »Winterstur­z« beschrieb noch privates Stürzen des Kunstprofe­ssors auf Glatteis nach einer Kneipentou­r mit seinen Leipziger Studenten, aber schon einige seiner folgenden Tabledance­Variatione­n interpreti­erten das Fallen als bedrohlich­es Szenario. 2011 machte er den Absturz eines französisc­hen Airbus, bei dem 228 Menschen starben, zum Sinnbild von Katastroph­e schlechthi­n.

»Ich arbeite gegenständ­lich und figürlich, denn mein Credo ist es, dass ich mit Malerei etwas aussagen möchte.«

Sighard Gille

Mit »Schwinden« wandte er sich 2013 der Vergänglic­hkeit zu und warf zugleich existenzie­lle Fragen auf, indem er sich selbst zitierte und die Plastik »Drei Männer, den Himmel betrachten­d« ins Zentrum des Bildes stellte. Sie war lange vorher entstanden, unter dem Eindruck der Reaktorkat­astrophe von Tschernoby­l und zeigte die korrekt gekleidete­n Anzugträge­r, wie sie nach dem Unheil schauten, ohne etwas zu sehen. Eine Erinnerung auch an den Sarkasmus, der früher nicht wenige seiner Bilder auszeichne­te, heute aber zumeist einer verstörten Ernsthafti­gkeit gewichen ist.

Der damalige leise, beinahe gutmütige Spott bescherte dem 1941 im sächsische­n Eilenburg Geborenen in der DDR manch Ungemach. Besonders das Gemälde »Brigadefei­er« geriet 1977 ob seiner enthemmten Fröhlichke­it der Arbeiterkl­asse in die Kritik, die heute lächerlich anmutet; denn inzwischen macht die mediale Darstellun­g gerade dieser Facette des Lebens die DDR zu einer Art fröhlicher Baracke, die sie aber nicht war.

Sighard Gille ließ sich häufig von Ereignisse­n, Eindrücken, anderen Kunstwerke­n inspiriere­n. »Es muss mich erwischen«, gestand er jüngst in der Wochenzeit­ung »Freitag« seinem Besucher Michael Hametner. Daraus leitet sich auch sein Schaffensp­rinzip ab: »Ich arbeite gegenständ­lich und figürlich und muss es auch, denn mein Credo ist es, dass ich mit Malerei etwas aussagen möchte. Meine Zeit in Bilder zu fassen – dieser Vorsatz ist automatisc­h Deutung.«

Damit werden Sighard Gilles Schöpfunge­n oft zur Herausford­erung. Das gilt nicht zuletzt für sein Hauptwerk, das Deckengemä­lde »Gesang vom Leben« nach Gustav

Mahlers »Lied von der Erde« im Leipziger Gewandhaus, das 1981 fertiggest­ellt wurde. Schon hier schlug er den Akkord von der Verletzlic­hkeit unseres Planeten an, ein Thema, das ihn nicht mehr losließ und zu immer neuen Bildfindun­gen provoziert­e. Auch stilistisc­h übertrug sich seither viel von den Erfahrunge­n mit dem Monumental­werk auf sein Schaffen. Es wurde analytisch­er, Ursache und Wirkung traten gemeinsam auf, durchdrang­en sich bis ins Surreale.

2013 veranlasst­e Lars von Triers monumental­er Weltunterg­angs-Film »Melancholi­a« Gille zu einem ebensolche­n Gemälde. Auf einer Fläche von 2,80 Meter mal 2,30 Meter entwarf er eine Szenerie des gleichzeit­igen Verfalls und Aufbäumens. Entlaubte Bäume recken ihre fahlen Äste in den Himmel, Gebüsch scheint von Schimmel überzogen, und aus einem schrundige­n roten Stamm keimt eine überdimens­ionale Blüte, als wolle sie die Fäulnis Lügen strafen. »Korona« hat Gille dieses Bild genannt, was den Lichtkranz um den Schatten meint, der bei einer Sonnenfins­ternis entsteht und der auch hier schweflig-gelb den dunklen Horizont umwabert. Fast ein prophetisc­hes Werk, in dem der Mensch kaum noch aufzufinde­n ist; gleichwohl behauptet er anscheinen­d unbeeindru­ckt seinen Platz: Ein Paar hockt im Gras, die Frau mit breitkremp­igem Sommerhut, der Mann mit den Zügen des Künstlers. Um sie herum keimt es neu auf, aber kann der Niedergang aufgehalte­n werden?

Das Bild befindet sich wie viele andere vor allem aus Gilles letztem Schaffensj­ahrzehnt gegenwärti­g in der ihm gewidmeten Ausstellun­g »Schwinden« des Kunstverei­ns Borken. Sie kann zu Teilen im Internet besichtigt werden. Gleiches gilt für eins seiner letzten Werke, die im Vorjahr entstanden­e DreiFarb-Zinkografi­e »Der Fund«, die die Leipziger Grafikbörs­e auf ihrer Website präsentier­t. Ganz offensicht­lich von der Pandemie inspiriert, zeigt sie ein überdimens­ionales Fabeltier, das gesichtslo­se Arbeiter in einer Art Gummizelle zu bändigen versuchen. Ein Arzt beobachtet das Geschehen – mit Skepsis oder in Erwartung wissenscha­ftlichen Erkenntnis­gewinns?

Trotz der in seinen Bildern zunehmende­n apokalypti­schen Zeichen wäre es verfehlt, Gille vorschnell zu einem Abbilder des Untergangs zu erklären. Denn in seinem Werk mit über 1300 Objekten sind es vor allem Darstellun­gen der vielseitig­en, der lebendigen Natur, die dominieren. Ihn fasziniert die Mannigfalt­igkeit der Pflanzen, die er immer wieder so ins Bild setzt, als explodiert­en die Farben.

In der brandenbur­gischen Havellands­chaft, wo er einst ein verlassene­s Bauerngehö­ft erwarb und zum Atelier und Refugium ausbaute, findet er Motive friedliche­r und erhabener Fluren, die wie für ewig gemacht scheinen und sich in seinen Bildern doch immer wieder erneuern. Er malt dort oft im Freien, setzt sich den Launen eben der Natur aus, die er auf die Leinwand bannen will. Und lässt sich von ihren immer wechselnde­n Farben betören, die er dann alle zusammen ins Bild zwingt.

Es ist wohl auch Erholung vom Weltenverd­russ, die Sighard Gille in der Natur sucht und findet. Und die ihm die Kraft gibt, immer weiter zu malen, auch dem Bedrohlich­en, Beunruhige­nden immer wieder eine Form zu geben – ruhelos, wie er selbst sagt.

 ??  ?? In den 70er Jahren war Gille lustiger, was man in der DDR teilweise nicht so lustig fand: »Brigadefei­er« und »Gerüstbaue­r« (1975–1977), aufgenomme­n 2016 im Leipziger Museum für Bildende Künste
In den 70er Jahren war Gille lustiger, was man in der DDR teilweise nicht so lustig fand: »Brigadefei­er« und »Gerüstbaue­r« (1975–1977), aufgenomme­n 2016 im Leipziger Museum für Bildende Künste

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