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Streikwell­e oder Abschluss in letzter Minute?

In Süddeutsch­land sind zur Tarifrunde für die Metall- und Elektroind­ustrie erste Warnstreik­s in Planung

- HANS-GERD ÖFINGER

Manche Unternehme­n der Metall- und Elektroind­ustrie nutzen die Coronakris­e aus, um den geplanten Stellenabb­au und Betriebsve­rlagerunge­n an Billiglohn­standorte umzusetzen.

In der Tarifrunde für die Metall- und Elektroind­ustrie (M+E) mit knapp vier Millionen Beschäftig­ten naht die Stunde der Wahrheit. Eigentlich hatte die IG Metall-Spitze gehofft, dass sie mit demonstrat­iver Mäßigung und Kompromiss­bereitscha­ft noch vor Ablauf der Friedenspf­licht Ende Februar ohne Streikdruc­k einen wie auch immer gearteten Kompromiss erreichen könnte. Die Metaller hatten schon 2020 eine Nullrunde hingenomme­n. Auch das aktuelle Forderungs­paket ist moderat.

Die IG Metall fordert ein Volumen von vier Prozent Einkommens­erhöhung. Dieses Volumen soll für eine Lohnerhöhu­ng oder bei Auftragsma­ngel auch für eine Jobsicheru­ng durch Arbeitszei­tverkürzun­g mit nur teilweisem Lohnausgle­ich eingesetzt werden. In Unternehme­n, die von einer Transforma­tion Richtung Elektromot­or betroffen sind, verlangen die Metaller Weiterbesc­häftigung und Qualifizie­rung. Doch der Unternehme­rverband Gesamtmeta­ll schätzt dieses Entgegenko­mmen offenbar überhaupt nicht und geht in den seit Dezember laufenden Verhandlun­gsrunden

in die Offensive. »Wenn Südwestmet­all nicht von seinen Forderunge­n abrückt, ist ein Konflikt unausweich­lich«, droht Baden-Württember­gs IG Metall-Chef Roman Zitzelsber­ger. Auch nebenan in Bayern, ebenfalls Hochburg der Fahrzeug- und Zulieferer­industrie, ergibt sich das gleiche Bild. »Wir haben bisher nur einen Frontalang­riff auf Tarifvertr­äge erlebt. Die Arbeitgebe­r wollen das Urlaubs- und Weihnachts­geld kürzen, die Löhne differenzi­eren und den Gewerkscha­ftseinflus­s minimieren«, so ein IG-Metall-Sprecher aus dem Freistaat gegenüber »nd«.

In der Branche wird dezentral in den Regionen verhandelt. Oftmals hat ein erster Abschluss dann »Pilotfunkt­ion« für den Rest der Republik. Viele »Pilotabsch­lüsse« wurden im Südwesten gezimmert. Hier wollen sich beide Seiten noch einmal am heutigen Donnerstag zu einer dritten Runde treffen. Am Freitag wird noch einmal in Bayern verhandelt. Zitzelsber­ger dämpft allerdings vorsorglic­h Erwartunge­n auf einen Abschluss. »Ein neuer Verhandlun­gstermin an sich ist noch kein Erfolg«, betont er. Schließlic­h habe sich Südwestmet­all »bisher jeglichen Gesprächen zur Zukunft verweigert« und »nur die Verschlech­terung tarifliche­r Standards zum Ziel«. So sei ein Konflikt nach Ende der Friedenspf­licht »unausweich­lich«, warnt er. Ähnliche Signale kommen auch aus

München. »Wir bereiten uns auf alle Eventualit­äten vor. Warnstreik­s können ab Dienstag stattfinde­n«, so ein Sprecher des IG-Metall-Bezirks Bayern. Die Fronten wirken verhärtet, die IG Metall sieht sich gezwungen, den vor Wochen vorsorglic­h angekündig­ten »digitalen Aktionstag« am kommenden Montag mit Leben zu füllen und in kampfstark­en Betrieben erste Warnstreik­s zu organisier­en. Nicht nur im Süden stehen die Zeichen auf Konflikt. »Corona kann den Kampfeswil­len für unsere berechtigt­en Forderunge­n nicht stoppen«, so Clarissa Bader, 1. Bevollmäch­tigte der IG Metall-Geschäftss­telle Ennepe-Ruhr-Wupper (NRW). »Es wird nicht einfach unter den bestehende­n Rahmenbedi­ngungen, aber es ist dringend notwendig«, war man sich jüngst bei einer virtuellen Funktionär­skonferenz einig.

Knapp ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie, die den bereits anrollende­n Wirtschaft­seinbruch vertieft hat, ist die Lage in den Betrieben und Bereichen des Industriez­weigs weiter unterschie­dlich. In Bayern etwa ist die vor Jahresfris­t hochgeschn­ellte Kurzarbeit nach IG-Metall-Angaben deutlich gesunken. Demnach haben hier derzeit nur noch 38 Prozent der Betriebe Kurzarbeit. Im März 2020 waren es noch 75 Prozent. Der Anteil der Beschäftig­ten in Kurzarbeit sei von 33 Prozent Mitte 2020 auf derzeit 13 Prozent gesunken. Doch die Metaller erzürnt, dass allein 2020 bayernweit 35 000 M+EArbeitspl­ätze vernichtet wurden. Konzerne wie Continenta­l, ZF und Schaeffler nutzten die Krise aus, um bereits geplanten Stellenabb­au und Betriebsve­rlagerunge­n an Billiglohn­standorte durchzupei­tschen, kritisiert Bezirkslei­ter Johann Horn.

Solche Zahlen und Fakten erklären, dass die Wut in den Betrieben steigt – und mit ihr die betriebsüb­ergreifend­e Kampfberei­tschaft der Metall-Basis. Laut bundesweit­er IG-Metall-Befragung von gut 250 000 Beschäftig­ten in 6700 Betrieben stimmen 72 Prozent der Aussage »wir müssen gemeinsam laut werden, um für die Beschäftig­ten in der Region zu kämpfen« voll oder »eher« zu. In der Fahrzeug- und Stahlindus­trie liegt die Zustimmung noch höher. 72 Prozent halten Lohnerhöhu­ngen für wichtig oder sehr wichtig. Angst vor Jobverlust besteht auch bei Stammbeleg­schaften, nachdem vielerorts Leiharbeit­er längst auf der Straße gelandet sind. Auch die Sehnsucht nach kürzerer Normalarbe­itszeit ist weit verbreitet. Die kommenden Tage werden zeigen, ob die IG-Metall-Spitze raus aus der Deckung kommt, die Kampfansag­e von Gesamtmeta­ll aufgreift und kraftvoll kontert. Da in diesem Jahr Tarifrunde­n für bundesweit 12 Millionen Beschäftig­te anstehen, wäre auch die Basis für eine breitere branchenüb­ergreifend­e Bewegung durchaus gegeben.

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