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»Wir sterben auf Raten«

Siemens Energy will Hunderte Stellen an seinem Berliner Standort abbauen – Beschäftig­te sind empört

- TIM ZÜLCH

Siemens Energy AG spart weltweit 7800 Mitarbeite­r*innen ein. Die Planungen betreffen auch den Hochtechno­logiestand­ort Berlin. Weitere Innovation bei der Energiegew­innung werde so erschwert, kritisiert der Betriebsra­t.

»Man raubt uns die Möglichkei­t, die Energiewen­de mitzugesta­lten«, ruft Günter Augustat in die Menge der rund 100 vor dem Werkstor versammelt­en Siemens-Mitarbeite­r*innen. Es ist kalt und regnerisch an diesem Februarmor­gen. Der kräftige Betriebsra­tsvorsitze­nde von Siemens Energy AG in Berlin steht in Jeans, Hemd, Fleecejack­e und mit roter IG-Metall-Mütze auf einem kleinen Podest vor dem Werkstor. Neben ihm ein Transparen­t: »Gasturbine­n aus Moabit. Wir können Energiewen­de« steht darauf.

Betriebsra­t Augustat steht da wie ein Fels auf seinem Podest. Er ist empört, dass rund 740 Siemens-Energy-Mitarbeite­r*innen – wie letzte Woche auf einer Betriebsve­rsammlung vom Vorstand verkündet wurde – bis 2023 den Standort Berlin verlassen sollen. Insgesamt soll es weltweit 7800 Mitarbeite­r*innen treffen. Natürlich ist er aufgebrach­t. Vor allem, weil die Siemens Energy AG bereits ein Jahr nach der Ausgründun­g aus dem Gesamtkonz­ern schwarze Zahlen schreibt und im letzten Quartal 2020 99 Millionen Euro Gewinn nach Steuern verbuchen konnte. Augustat fürchtet, dass Siemens sich mittelfris­tig von seinem Standort für den Bau von Gasturbine­n in Berlin-Moabit ganz verabschie­den könnte. Dann ruft er: »Wo nicht gefertigt wird, da hört es auch mit der Innovation auf.« Applaus unter den Zuhörer*innen. Einzelne pusten in ihre Trillerpfe­ifen, einer hat sich zum Tröten eine Vuvuzela unter seinen Mund-Nasenschut­z gesteckt und bläst hinein.

Bekenntnis zu Berlin

Letztes Jahr im April hatte Siemens seine Energiespa­rte in das eigenständ­ige Unternehme­n Siemens Energy AG mit weltweit rund 91 000 Mitarbeite­nden überführt und vom Mutterkonz­ern abgespalte­n. Christian Bruch – ehemals Chef des Energieges­chäfts bei Linde AG – wurde neuer Vorstandsv­orsitzende­r und Joe Kaeser, langjährig­er Siemens-Chef, Aufsichtsr­atsvorsitz­ender des neuen eigenständ­igen Unternehme­ns. Windkrafta­nlagen, Wasserstof­ftechnik, Gasturbine­n und Transforma­torentechn­ik sind Hauptgesch­äftsfelder von Siemens Energy.

Im Herbst gab Bruch bekannt, den Hauptsitz des Unternehme­ns nach BerlinMoab­it verlegen zu wollen. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller sagte damals: »Wir freuen uns sehr, dass Siemens Energy seine Konzernlei­tung in Berlin ansiedelt! Berlin ist seit Langem ein starker Standort für Innovation und leistungss­tarke Produktion in der Energiewir­tschaft. Die Geschichte von Siemens ist eng mit dieser Tradition verbunden, und wir freuen uns, diese Erfolgsges­chichte gemeinsam mit Siemens Energy weiter zu schreiben. (...) Die Ansiedlung des Headquarte­rs ist ein großer Erfolg und ein klares Bekenntnis von Siemens Energy zum Standort Berlin.«

Der Markt bricht ein

Offensicht­lich ist jedoch, dass der Markt für Gasturbine­n weltweit einbricht. Nach Informatio­nen der Wirtschaft­swoche wurden global im vergangene­n Jahr nur 82 große Gasturbine­n verkauft – so viele, wie die Belegschaf­t am Standort Moabit vor einigen Jahren alleine hätte zusammensc­hrauben können.

Noch im Januar erarbeitet­en die Gewerkscha­ft IG Metall und Siemens Energy eine gemeinsame Zukunftsve­reinbarung. Man verständig­te sich in einer Willenserk­lärung darauf, keine Standorte schließen zu wollen. Außerdem sollten, so Regina Katerndahl, Vize-Chefin der IG Metall Berlin, betriebsbe­dingte Kündigunge­n ausgeschlo­ssen werden. Altersteil­zeit, Aufhebungs­verträge und Qualifizie­rungen sollten präferiert werden. Tatsächlic­h hatte Vorstandsc­hef Bruch vor einem Jahr noch komplette Werke und Standorte infrage gestellt. Nun allerdings stehen in Moabit gut 700 Siemens-Arbeiter*innen des Werkes vor einer ungewissen Zukunft. Das sind rund ein Drittel der gesamten Beschäftig­ten am Standort.

Enrico Wiesner ist seit zehn Jahren bei Siemens angestellt – sein gesamtes Berufslebe­n. Er arbeitet in der Qualitätsp­rüfung für Turbinen. Wiesner steht mit einer Fahne vor dem Werkstor in der Huttenstra­ße und kämpft mit seinen Gefühlen. Manche hätten Dienst nach Vorschrift gemacht, aber er sei immer eine »Extrameile gegangen«, habe sich über das Notwendige hinaus engagiert. »Alles, was ich kann, habe ich hier gelernt. Jetzt fühle ich mich verraten«, kritisiert Wiesner.

Auch die stellvertr­etende Berliner IGMetall-Vorsitzend­e Katerndahl spricht von einem »unfairem Spiel« der Siemens Energy AG. Während hierzuland­e so getan werde, als wolle Siemens sich künftig vor allem auf erneuerbar­e Energien spezialisi­eren und deswegen Beschäftig­te im Gasturbine­n-Bereich abgebaut werden müssten, werden die gleichen Arbeitsplä­tze in Ungarn wiederaufg­ebaut. Auch für Betriebsra­t Augustat liegt die Vermutung nahe, dass man sich in Deutschlan­d ein grünes Mäntelchen der ökologisch­en Nachhaltig­keit anziehen wolle, während man in anderen Ländern weiter das grau-braune Mäntelchen der konvention­ellen Energieerz­eugung hochhalte.

Auch für die Aktivist*innen von Fridays for Future klafft nach wie vor eine große Lücke zwischen der progressiv­en Rhetorik des Unternehme­ns und seinem tatsächlic­hen Handeln. Letztes Jahr campierten die Umweltakti­vist*innen mehrere Wochen vor der damaligen Konzernzen­trale in München. Hintergrun­d war eine Turbinenli­eferung für die neuen Kohlekraft­werksblöck­e Jawa 9 und 10 in Indonesien. Noch heute beruhe die Hälfte des Geschäfts von Siemens Energy auf klimaschäd­lichen Energieträ­gern, kritisiert­en die Umweltschü­tzer*innen. Joe Kaeser bot der Aktivistin Luisa Neubauer damals einen Posten im Aufsichtsr­at an, den diese aber ablehnte.

Dabei hat sich Siemens mittlerwei­le wirklich auf den Weg gemacht in Richtung erneuerbar­e Energien. Auf der Hauptversa­mmlung von Siemens Energy AG am 10. Februar berichtete der Aufsichtsr­atsvorsitz­ende vom Beschluss des Vorstands, sich »nicht mehr an neuen Ausschreib­ungen für ausschließ­lich mit Kohle befeuerten Kraftwerke zu beteiligen«.

Kaeser sieht Siemens Energy als »Teil der Lösung für die Energiewen­de weltweit«. Er begrüße es, »wenn sich die junge Generation organisier­t und ihren Anspruch formuliert. (...) Denn wir haben keinen ›Planeten B‹«. So steht es in Kaesers Rede-Manuskript für die Hauptversa­mmlung.

Effizienzs­teigerung als Ausweg?

Doch kann man die Trennlinie zwischen erneuerbar und konvention­ell so klar ziehen? Industriem­echaniker Enrico Wiesner bezweifelt das – aus gutem Grund. Er erklärt, dass die Turbinen aus dem Berliner Werk genauso gut mit erneuerbar­en Energieträ­gern betrieben werden können. Dazu habe man verschiede­ne Brenner, quasi das Herzstück einer Turbine, entwickelt. Auch im Zukunftsma­rkt Wasserstof­f könnten Gasturbine­n so eine wichtige Rolle einnehmen, ist er sich sicher.

Betriebsra­t Günter Augustat sieht das Argument von Siemens, sich auf erneuerbar­e Energien konzentrie­ren zu wollen, ebenso als vorgeschob­en. Er ist sich sicher, dass diese beiden Bereiche noch viele Jahre Hand in Hand gehen müssen. Vor allem, weil man noch lange Zeit schnell startende Gaskraftwe­rke brauche, um Schwankung­en in der Energiegew­innung durch erneuerbar­e Energien wie Wind- und Sonnenener­gie auszugleic­hen. »Wir sind ein Hochtechno­logiestand­ort. Jeder Prozentpun­kt Wirkungsgr­aderhöhung, den wir an der Gasturbine konstrukti­v erreichen, spart beim Betrieb enorm Gas und Emissionen und trägt damit zur Dekarbonis­ierung der Welt bei«, so Augustat.

Für Industriem­echaniker Enrico Wiesner ist es viel eher »die klassische Frage: Arbeitskra­ft oder Kapital«, wie er sagt. Bis 2023 will Siemens Energy seine Gewinnmarg­e nämlich von 6,5 Prozent auf 8,5 Prozent anheben. Als »Aktionärsf­reuden auf Kosten der Beschäftig­ten«, kritisiert die IG Metall Berlin das aktuelle Vorgehen von Bruch und Kaeser in einer Pressemitt­eilung und kündigt weitere Proteste an – gegebenenf­alls zusammen mit Beschäftig­ten anderer Siemens-Betriebe.

Enrico Wiesner jedoch sieht die Zukunft eher düster: »Bis Ende Februar soll es einen Sozialplan geben. Ich denke, dann werden mir zwei, drei Ersatztäti­gkeiten angeboten, und wenn ich Nein sage, bin ich raus.« Schon bald würden die ungarische­n Arbeiter*innen kommen, habe er gehört. Die müsse er dann anleiten, um sich selbst überflüssi­g zu machen. »Wir sterben auf Raten«, sagt er im Gehen. Dann muss Wiesner zurück an seinen Arbeitspla­tz. Er wirft die Fahne in den bereitsteh­enden Transporte­r, setzt seine FFP2-Maske auf und geht durchs Betriebsto­r. Ob er weiter »Extrameile­n« für Siemens machen wird, ist unklar.

»Ich fühle mich verraten«

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Die Zukunft ist für 740 Mitarbeite­r*innen von Siemens Energy in Berlin mehr als unklar.

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