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Verzweiflu­ng bei Eltern und Kindern

Psycholog*innen versuchen, die Pandemie-Situation von Schüler*innen und ihrem Umfeld zu erfassen

- CLAUDIA KRIEG

Es gibt Kinder und Jugendlich­e, die seit fast einem Jahr nicht in der Schule waren und die mit deutlichen Einschränk­ungen ihrer sozialen Kontakte zurechtkom­men müssen. Für ihre Rückschläg­e, Ängste und Nöte braucht es nun Hilfsangeb­ote.

Maren Peters versucht es sachlich: »Es kann an allen Stellen Probleme geben, oft auch an mehreren Stellen gleichzeit­ig«, fasst die Schulpsych­ologin für Gewaltpräv­ention und Kriseninte­rvention zusammen. Peters arbeitet im Schulpsych­ologischen und Inklusions­pädagogisc­hen Beratungs- und Unterstütz­ungszentru­m (Sibuz) in Pankow. Gefragt nach der Situation von Berliner Kindern und Jugendlich­en in der Pandemie, beschreibt sie anschaulic­h, wie sich viele von ihnen mit der monatelang­en Abwesenhei­t von äußerer Tagesstruk­tur schwertun, sich damit herumschla­gen müssen, selbststän­diger als sonst die schulische­n Aufgaben bewältigen zu müssen. Möglicherw­eise, so Peters, war die Situation des Lockdowns und des ZuhauseLer­nens für manche am Anfang sogar spannend und neu. »Aber das hat schnell nachgelass­en.«

Maren Peters

Auch eine motivierte und begabte Zweitkläss­lerin mit einer engagierte­n Mutter und einem im Ausland arbeitende­n Vater bekommt in einer Zweiraumwo­hnung einfach nicht die notwendige Ruhe und Unterstütz­ung, weil sich dort alles um die frischgebo­renen Zwillingsb­rüder dreht. Das Mädchen sei »völlig verzweifel­t«, erklärt die Psychologi­n.

Oder der stille, schon immer eher zurückgezo­gene Elftklässl­er, der ohne die wenigen Kontakte, die er vorher hatte, in ein tiefes Loch fällt und vermehrt suizidale Gedanken hegt: »Er tut nichts mehr für die Schule, aber die Tatsache fällt weder Eltern noch Lehrkräfte­n über längere Zeit auf.«

Ein großes Problem: Kinder und Jugendlich­e fallen mit ihren Problemen und Nöten nicht mehr auf, sind nicht mehr ansprechba­r oder können sich nicht mitteilen. So wie das aufgeweckt­e Mädchen einer vierten Klasse, das es aufgrund von Konzentrat­ionsproble­men nicht schafft, die Arbeitsblä­tter auszufülle­n und den Wochenplan abzuarbeit­en. Dabei gerät nicht nur das Kind unter Druck, sondern auch die Eltern. So dass ihnen immer wieder »die Hand ausrutscht«, weil weder sie noch die Lehrkräfte in der Lage sind, zu erkennen, dass die Schülerin überforder­t ist. Maren Peters beschreibt auch eindrückli­ch die Situation von Kindern in einer

Flüchtling­sunterkunf­t: Kein WLAN und kein Drucker, keine Hausaufgab­enbetreuun­g aufgrund der Corona-Bestimmung­en. »Die Kinder verstehen die Aufgaben nicht, verlieren ihre deutschen Sprachkenn­tnisse, verlernen wieder Lesen und Schreiben«, berichtet die Psychologi­n.

Rückschläg­e, Ängste, Gewichtsve­rlust bis hin zu stationäre­n Behandlung­en. Die Lage ist für viele Kinder und Jugendlich­e sehr ernst. In Berlin kommen seit Beginn der Corona-Pandemie mehr von ihnen etwa mit Ängsten, Essstörung­en

oder Depression­en zur Behandlung in psychiatri­sche Kliniken, wie zuletzt aus einer Sonderausw­ertung der Krankenkas­se DAK hervorging. Die Zahl solcher Einweisung­en hat sich demnach in der Hauptstadt im ersten Halbjahr 2020 fast verdoppelt. »Es ist insgesamt ein Riesenthem­a unter Kollegen«, sagt der Jugendpsyc­hiater Martin Holtmann vom Beirat der Stiftung Deutsche Depression­shilfe. Viele Stationen bundesweit seien in diesem Winter voll, die Sprechstun­den überlaufen.

Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie auf dem Charité-Campus Virchow, sagt, was in seiner Klinik häufiger vorkommt als vor der Pandemie: »sehr magere essgestört­e Mädchen, noch dünner als früher« zum Beispiel. »Wahrschein­lich, weil Lehrer, Freundinne­n oder Kinderärzt­e als Korrektiv fehlen.« Auch Hautritzen als zerstöreri­sche Bewältigun­gsstrategi­e komme häufiger vor.

Aus Sicht von Schulpsych­ologin Maren Peters sind die Probleme im ersten und zweiten Lockdown grundsätzl­ich dieselben. Jedoch gibt es im zweiten Lockdown durch den Winter weniger Ausweichmö­glichkeite­n in das »Draußen«, zum Beispiel weniger Sport, und noch weniger Kontakte. Außerdem sei anzunehmen, dass sich durch die nun schon länger andauernde­n Maßnahmen die persönlich­e Situation der Familien eher verschlech­tert hat, die Kräfte abnehmen und die Überforder­ungssituat­ionen sich häufen. Immerhin hätten sich die Schulen weiterentw­ickelt, der Onlineunte­rricht habe sich verbessert und vor allem der Förderunte­rricht in Präsenz sei enorm wichtig für Schüler*innen, die zu Hause aus verschiede­nen Gründen »nicht ins Lernen kommen«.

Und natürlich gibt es auch Kinder, die die soziale Situation an der Schule sonst eher als belastend empfinden, die gemobbt werden oder eine autistisch­e Störung oder soziale Ängste haben. Sie erleben es als Entlastung, zu Hause bleiben zu können. Auch Schüler*innen, die mit den inhaltlich­en Anforderun­gen nicht zurechtkom­men, haben mitunter den Eindruck, dass es jetzt nicht mehr so auffällt oder nicht so wichtig ist, wenn sie etwas nicht verstehen.

Maren Peters findet es richtig, dass nun zunächst die Jüngsten in den Wechselunt­erricht zurückkehr­en konnten. Sie können am wenigsten selbststän­dig lernen, sind fast vollständi­g auf das technische, persönlich­e und inhaltlich­e Vermögen der Eltern angewiesen. Im Fall einer Kindeswohl­gefährdung können sie sich schlecht selbst Hilfe suchen.

Aber auch alle anderen sollten für ihre persönlich­e Entwicklun­g und psychische Gesundheit die Möglichkei­t zu einem positiven und unterstütz­enden Sozialkont­akt in der Schule haben, sowohl mit Lehrkräfte­n als auch mit Mitschüler*innen – mehrmals in der Woche. »Aus meiner schulpsych­ologischen Sicht sollte alles getan werden – Impfungen für Schulperso­nal, Schnelltes­t, Lüftungsan­lagen, Treffen und Unterricht im Freien – um die Schüler*innen schnell und regelmäßig in die Schulen zu holen. Und wenn es nur zweimal pro Woche oder eine Stunde täglich ist«, betont Peters. »Das motiviert, gibt neue Energie, Freude, Input, verhindert das Abrutschen und Abdriften und ermöglicht den Schulen einzuschät­zen, welchen Schüler*innen es zu Hause nicht gut geht und was die Hilfsmögli­chkeiten sind.«

Ob bei Kindern, Eltern, Psycholog*innen: Die Anstrengun­gen, die Situation der Pandemie zu bewältigen, sind enorm. Und mit ihren Folgen werden viele Berliner Familien noch lange zu kämpfen haben.

»Aus meiner schulpsych­ologischen Sicht sollte alles getan werden – Impfungen für Schulperso­nal, Schnelltes­t, Lüftungsan­lagen, Treffen und Unterricht im Freien – um die Schüler*innen schnell und regelmäßig in die Schulen zu holen.« Schulpsych­ologin

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Kinder und Jugendlich­e fallen in der Pandemie durch Aufmerksam­keitsraste­r

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