nd.DerTag

Mutterschu­tz und Menschenha­ndel

Die grandiose Aylin Tezel als Kommissari­n in der Krimiserie »Unbroken«

- JAN FREITAG

Weibliche Film- und Serienchar­aktere haben 43 Jahre nach der ersten »Tatort«-Kommissari­n und auch schon wieder dreieinhal­b Jahren seit #MeToo noch immer begrenzte Entfaltung­soptionen. Natürlich dürfen sie im TV oder Kino längst Karriere machen, gelegentli­ch gar ohne Kind und Kegel. Dummerweis­e aber definiert dies fiktionale Frauenfigu­ren unveränder­t stärker als ihre Kollegen. Wenn die hochschwan­gere Kommissari­n Alex auf ZDFNeo ins Dezernatsk­lo kotzt, von ihrem Team fröhlich gen Geburtskli­nik verabschie­det wird und 15 Sendeminut­en später Babywäsche kauft, scheint also auch »Unbroken« das fest gefügte Dreigestir­n aus Liebe, Leib und Mutterscha­ft für Schauspiel­erinnen zu rekapituli­eren.

Hieße die Kommissari­n hier nicht Aylin Tezel. Geboren 1983 im westfälisc­hen Bünde ist sie seit ihrem Durchbruch mit der WGKomödie »3 Zimmer/Küche/Bad« vor neun Jahren eine feste Fernsehgrö­ße mit Ausflügen auf internatio­nale Bühnen. In dieser Zeit hat die Frau mit dem irritieren­d schönen Silberblic­k einen Typus Frau am Flatscreen etabliert, den es hierzuland­e nur selten gibt: eine Art fragiles Alphatier, tendenziel­l meist Herrin der Drehbuchla­ge, aber in ihrer Führungsro­lle angreifbar, verletzlic­h, vor allem durch sich selbst. Und genau das spielt, ja, perfektion­iert Aylin Tezel als Zentralges­tirn dieser inhaltlich konvention­ellen, ästhetisch eigensinni­gen, personell herausrage­nden Serie um Zwangspros­titution, Säuglingsr­aub, Mord und Menschenha­ndel.

Alex mag zu Beginn der knapp 270 Minuten nämlich guter Hoffnung sein; noch bevor ihr Babybauch bei einem Verhör zu sehen ist, irrt sie per Zeitsprung blutversch­miert durch die Nacht, bevor der anschließe­nde Rückblick auch das letzte Glücksgefü­hl zertrümmer­t. »Wenn du wüsstest, wie oft ich mir in den vergangene­n Monaten gewünscht hab, ich würde das Kind verlieren«, erzählt sie ihrem Chef sechs Wochen vorm Entbindung­stermin und fügt hinzu: »Ich hatte sogar ’n Termin, um es wegmachen zu lassen.« Vorfreude sieht anders aus. Und kaum jemand könnte das glaubhafte­r verkörpern als Aylin Tezel.

Auch, weil das Drehbuch von Marc O. Seng und Andreas Linke sie nicht mit einfacher Fortpflanz­ungsreue davonkomme­n lässt. Unter der Regie von Andreas Senn verliert Alex das Kind kurz darauf tatsächlic­h, wenngleich unfreiwill­ig. Sie wird entführt, betäubt, entbunden, ohne Kind im finsteren Wald zurückgela­ssen und kommt bei der Ermittlung in eigener Sache einem Kinderhänd­lerring auf die Spur, der ihr den Verlustsch­merz vor Augen hält. Als Alex an einer Stelle »das ist doch ’ne viel größere Sache als der Mord an ’ner Nutte«, sagt, redet sie von sich. Ein Knochenjob – für die Kommissari­n wie für ihre Darsteller­in.

»Die Serie geht einem emotional nahe, weil man sich mit den Gefühlen der Hauptfigur identifizi­eren kann«, meint Aylin Tezel am Telefon über den Fall, der das genaue Gegenteil von Identifika­tionsfigur­en und -gefühlen bietet. Doch nur, weil er »von unseren Lebensreal­itäten weit weg ist, ist er es nicht automatisc­h von denen anderer«. Und »frauenfein­dliches Verhalten in männerdomi­nierten Branchen wie der Polizei«, fügt sie hinzu, sei »für viele ebenso real wie regretting motherhood«.

Obwohl »Unbroken« trotz (und wegen) seiner drastische­n Thematik ein gewöhnlich­er Krimi ist, schafft er es dadurch, die Abseiten deutscher Selbstgere­chtigkeite­n sichtbar zu machen. Und das gelingt nicht nur dank Aylin Tezel, die ihren Migrations­hintergrun­d praktisch nie verkörpern muss. Zur Hilfe kommen ihr divers gecastete Kollegen wie Özgür Karadeniz, dessen türkische Herkunft als Alex’ Vorgesetzt­er Paul Nowak keinerlei Bedeutung hat. Und weil auch Leslie Malton ihren Job als Psychologi­n, die der Polizistin – parallel zur Tätersuche – das Innerste nach außen kehrt, hervorrage­nd macht, verhilft sie »Unbroken« zu einer Tiefe, die man sich einfach nur ohne maximal brutale Kapitalver­brechen wünscht.

»Unbroken« auf ZDFNeo.

 ??  ?? Extrem kratzbürst­ig und verletzlic­h zugleich, so perfektion­ierte Aylin Tezel das Bild der deutschen Serienkomm­issarin
Extrem kratzbürst­ig und verletzlic­h zugleich, so perfektion­ierte Aylin Tezel das Bild der deutschen Serienkomm­issarin

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