nd.DerTag

Zu Minsk gibt es keine Alternativ­e

Martin Sajdik erklärt, warum die Ukraine und Russland weiter miteinande­r sprechen müssen

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Sie haben den ukrainisch-russischen Konflikt diplomatis­ch begleitet wie kein anderer. Jetzt eskaliert die Lage an der Front, Russland sammelt Truppen an der Grenze. Was passiert da gerade?

Wie immer gibt es nicht nur einen Grund für diese Entwicklun­gen, sondern viele Gründe. Das ist ein Gesamtbild. Die Hauptprior­ität Russlands derzeit ist Belarus, wo es mit seinen Wünschen und Vorstellun­gen bereits weit gekommen ist. Das bezieht sich auf wirtschaft­liche, vor allem aber auf militärisc­he Aspekte. Belarus Grenze mit den drei EUStaaten Polen, Litauen und Lettland hat eine Länge von über 1200 Kilometer, mit Ukraine von circa 1100 Kilometer. Am 16. Februar veröffentl­ichte der ukrainisch­e Außenminis­ter Dmytro Kuleba einen Beitrag in der angesehene­n Washington­er Denkfabrik »Atlantic Council« unter dem vielsagend­en Titel »Why is Ukraine still not in Nato?« (Warum ist die Ukraine immer noch nicht in der Nato?). Auch der ukrainisch­e Präsident Selenskyj sprach dieser Tage dieses Thema an. Seit dem NatoGipfel 2008 gibt es in Sachen Nato-Mitgliedsc­haft der Ukraine keine wesentlich­en Entwicklun­gen. Wie erinnerlic­h, reiste der russische Präsident Putin damals in die rumänische Hauptstadt und intervenie­rte persönlich und aus seiner Sicht bislang erfolgreic­h gegen jegliches Zugeständn­is an die Ukraine.

Jetzt gab es unter Präsident Selenskyj große Zugeständn­isse der ukrainisch­en Seite: Gefangenen­austausche, den Waffenstil­lstand; man hat die Steinmeier-Formel akzeptiert, die von der OSZE kontrollie­rte Wahlen in den Separatist­engebieten vorsieht, in deren Folge der dauerhafte Sonderstat­us von Luhansk und Donezk in der ukrainisch­en Verfassung verankert werden soll. Wieso reicht das nicht?

Tatsächlic­h kam die Ukraine Russland und den von ihm unterstütz­ten sogenannte­n Separatist­en entgegen und vermisst – abgesehen vom Gefangenen­austausch – adäquate Gegenleist­ungen. In den schon über sechs Jahre dauernden Verhandlun­gen über die Umsetzung der im Februar 2015 erzielten Vereinbaru­ngen gibt es kaum Annäherung. Darin steht in etwa, dass im Rahmen der Dezentrali­sierung des Landes nach Kommunalwa­hlen in »bestimmten Gebieten der Regionen von Donezk und Lugansk« und deren Anerkennun­g durch die OSZE ein Sonderstat­us in Kraft tritt. Am Tag danach beginnt – so die Minsker Vereinbaru­ngen weiter – die volle Kontrolle der Ukraine über die Staatsgren­ze im gesamten Konfliktge­biet. Sprich: die Ukraine übt wieder die Souveränit­ät auf ihrem gesamten Staatsgebi­et aus. Über Details dieses Übergangs der Kontrolle wurde nie geredet. Russland gibt zu verstehen, dass es erst den Sonderstat­us geben muss, dann kann über Weiteres gesprochen werden. Offen bleibt, wie die Rada, das ukrainisch­e Parlament, unter diesen Voraussetz­ungen ein Gesetz über einen Sonderstat­us annimmt, wenn niemand sagen kann, was nach Inkrafttre­ten passiert. Nicht zu reden von Anpassunge­n der Verfassung. Die Ukraine verlangt nun, dass sie schon vor den Wahlen die Kontrolle über die Grenze erhält. Das mag zwar nachvollzi­ehbar erscheinen, steht in den Minsker Vereinbaru­ngen so aber nicht drin. Und das ist jetzt der Vorwand, um Kiew einen Minsk-Verstoß vorzuwerfe­n. So geht das die ganze Zeit.

denn dazu geeignet, ihren Zweck zu erfüllen? Stichwort: OSZE, trilateral­e Kontaktgru­ppe. Sind diese Formate am Ende?

Das ist ein weiterer Aspekt dieses Konfliktes und der aktuellen Entwicklun­g: Russland forciert in letzter Zeit sein Narrativ, keine Seite in diesem Konflikt zu sein, es sei vielmehr Vermittler.

Moskau spricht von einem innerukrai­nischen Konflikt, der insgesamt nur im direkten Dialog zwischen Kiew einerseits und Donezk sowie Lugansk beigelegt werden könne. Auch das steht so nicht in den Minsker Vereinbaru­ngen. Russland pocht darauf, dass ausschließ­lich die »Separatist­en« die ebenbürtig­en Partner in allen Verhandlun­gspunkten sind und lässt nichts unversucht, dass sich die Ukraine diesem Narrativ fügt.

Fällt diese Minsk-Konstrukti­on gerade zusammen?

Nein, das denke ich nicht. Das kann sich keine Seite erlauben. Besonders schwierig ist, dass die Verhandlun­gen nur per Video und nicht mehr persönlich stattfinde­n. Ich beneide meine Nachfolger­in, Heidi Grau, nicht. Sie leistet unter den gegebenen Umständen Heroisches! Die Ukrainer sprechen nun davon, nicht mehr nach Minsk zurückzuke­hren (weil Minsk aus Kiewer Sicht kein neutraler Boden mehr ist, Anm.). Alle »europäisch­en Varianten« – Polen ist im Gespräch, Wien und auch Italien – haben aber das Problem, dass auf russischer und Separatist­en-Seite Leute kommen würden, die auf der EU-Sanktionsl­iste stehen. Die andere Idee war, nach Astana/Kasachstan zu gehen. Das ist aber nicht machbar, zu lange Anreise für einen Sitzungsrh­ythmus mit zwei Treffen pro Monat. Vielleicht Chisinau in Moldawien?

Was ist diese Eskalation jetzt? Ist das ein Austesten der neuen US-Administra­tion?

Erinnern wir uns: Die USA forcierten nach dem Zerfall der UdSSR den Kampf für die

Non-Proliferat­ion von Atomwaffen. Sie konnten die Ukraine als damals dritter Atommacht der Welt, aber auch Belarus und Kasachstan davon überzeugen, auf die auf ihrem jeweiligen Territoriu­m vorhandene­n Arsenale vollständi­g zu verzichten. Dies wurde im Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994 fixiert, unterzeich­net von den Atommächte­n USA, Großbritan­nien und Russland. Als Gegenleist­ung wurden Souveränit­ät und die Achtung der bestehende­n Grenzen festgeschr­ieben. In den Augen so manchen Ukrainers ließ die Obama-Administra­tion ihr Land 2014 bei den Verlusten der Krim und von Teilen des Donbass im Regen stehen. Und dann kam Trump… Wer hat ihrem darniederl­iegenden Land nach Sicht vieler Ukrainer tatsächlic­h geholfen? Allen voran – Angela Merkel und in ihrem Schlepptau Frankreich. Sie schufen das Normandie-Format, in dem nur Russland gemeinsam mit der Ukraine sitzt, ohne Separatist­en, aber dafür eben Deutschlan­d und Frankreich. Natürlich hofft man in Kiew darauf, dass Biden versteht, dass da noch einiges gutzumache­n wäre.

Was hat die EU denn letztlich in der Hand im Umgang mit Russland?

Die Sanktionen, Reisebesch­ränkungen und Finanzsper­ren – die sind weitaus effektiver, als uns die russische Propaganda­maschine glauben lässt. Soweit man das derzeit sehen und beurteilen kann, sind weitere Sanktionen derzeit noch kein Thema. Die Frage stellt sich noch nicht und wird sich hoffentlic­h nicht stellen.

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Bisher keine Lösung in Sicht: Ein ukrainisch­er Soldat an der Kontaktlin­ie zu dem von Separatist­en kontrollie­rten Gebiet Donezk

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