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Reinhold Lewin schrieb über Luthers Haltung zu den Juden, die Nazis ermordeten ihn.

Vor 500 Jahren stand Martin Luther vor dem Reichstag zu Worms und verteidigt­e seinen Glauben. Er hoffte, die Juden würden sich ihm anschließe­n. Doch bald schon verachtete er sie nur noch. Der Rabbiner Reinhold Lewin erforschte Luthers Verhältnis zu den Ju

- Von Karsten Krampitz

ist Autor und Schriftste­ller, zudem Mitglied der Historisch­en Kommission beim Vorstand der Linksparte­i. An der Humboldt-Universitä­t zu Berlin promoviert­e er 2015 zum Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR. 2017 erschien bei Alibri sein Überblicks­werk »›Jedermann sei untertan‹. Deutscher Protestant­ismus im 20. Jahrhunder­t. Irrwege und Umwege«.

Es ist der wohl berühmtest­e Satz des Protestant­ismus, gut 500 Jahre alt: »Ich kann nicht anders, hier stehe ich, Gott helfe mir, Amen.« Ein Satz allerdings, den Martin Luther so nicht gesagt hat bei seinem Auftritt vor dem Reichstag zu Worms am 18. April 1521. Wie sein Biograf Heinz Schilling schreibt, hatten seinerzeit die Lektoren in Luthers Buchdrucke­rei den ihnen zugespielt­en Redetext auf geniale Weise zugespitzt – ohne Luthers Mitwirkung, saß der Reformator doch bereits auf der Wartburg fest.

Gilt zwar der 31. Oktober 1517, mit der Veröffentl­ichung von Luthers Thesen, als Gründungsd­atum der evangelisc­hen Kirche, so begann ihre eigentlich­e Geschichte erst drei Jahre später vor den Mauern der Stadt Wittenberg: als Luther die päpstliche Bannandroh­ungsbulle öffentlich verbrannte. Der zornige Augustiner­mönch hatte den Papst exkommuniz­iert! Erst in dieser Zeit beginnt, so der Kirchenhis­toriker Volker Leppin, »die Selbstausl­egung der Reformator­en als Begründer einer neuen Epoche, die den alten Glauben als antichrist­lich hinter sich lässt«. Luthers Auftritt in Worms aber sollte alles andere überstrahl­en!

Der berühmte Auftritt beim Reichstag zu Worms

Der Standfeste. Der Gewissensm­ann. Das ist der Fokus, wenn von Luthers Auftritt beim Reichstag zu Worms die Rede ist. Weniger bekannt ist, dass womöglich auch ein anderes Thema eine Rolle spielte – eines, das oft eher mit dem »alten« Luther verbunden wird: sein Verhältnis zu den Juden. Reinhold Lewin machte darauf schon vor über 100 Jahren aufmerksam. Der spätere Rabbiner wurde 1911 an der Universitä­t Breslau zu Luthers Judenfeind­schaft promoviert. In seiner Dissertati­on schreibt er:

»Es war zu Worms im April 1521, in jenen denkwürdig­en Tagen, da der kühne Mönch von Wittenberg sein neues Evangelium mannhaft vor Kaiser und Reich vertreten. In der Herberge, in der Luther abgestiege­n ist, wird es nicht leer. Ein Besuch nach dem anderen meldet sich an, um von Angesicht zu Angesicht den Mann Gottes kennenzule­rnen, ›den Helden, der auf seinen Schultern eine große Last und fast des ganzen Reiches Hass getragen hat‹. Fürsten und Grafen und sonstige vornehme Herren drängen sich um ihn, begierig ein Wort mit ihm zu wechseln. Da begehren plötzlich zwei Juden Einlass. Der Herold Kaspar Sturm, der den Befehl empfangen hat, nur hineinzula­ssen wem es zukomme, hält sie verwundert an und erfährt auf seine Frage, sie hätten gehört, dass in dem Hause der trefflichs­te Mann weile, der jetzt lebe; er sei zugleich hochgelehr­t, und sie wollten von ihm in etlichen Dingen, in denen sie zweifelhaf­t seien, sich unterweise­n lassen; sie brächten ihm auch einige Geschenke mit, um ihn nach Gebühr zu verehren. Mit der Fürsten und Luthers Erlaubnis treten beide ein. Sie machen nach ihrer Gewohnheit ihre Reverenz, überreiche­n einige Flaschen süßen Weins und zeigen den Zweck ihres Kommens an; sie begehren nämlich, Luther möge ihnen etwas aus der Heiligen Schrift vorlegen, worauf sie ihm Rede und Antwort stehen mochten. Luther fordert sie zunächst auf, ihm die Meinung des Propheten Jesaja auszulegen in dem Spruch: ›Siehe, eine Jungfrau ist schwanger‹ (Jesaja 7, 14). Ihre Entgegnung lautet, das hebräische Wort, das man mit Jungfrau übersetze, bedeute generell oder allgemein ein junges Weib. Als Luther dagegen auf Rebekka und Mirjam verweist, die beide ebenso bezeichnet werden (1. Mose 24, 43 und 2. Mose 2, 8), stimmt der eine der beiden Juden ihm zu, der andere verharrt auf seiner Ansicht. Während Luther still schweigt, setzen die Juden den Disput untereinan­der fort, erhitzen sich in ihrem Streite immer mehr, es fehlt wenig, dass sie tätlich aneinander­geraten. Da greifen die Diener der anwesenden Fürsten ein und stoßen beide unter dem schallende­n Gelächter der Zuschauer hinaus.«

An der Historizit­ät dieser Episode haben Historiker heute ihre Zweifel. Das Problemati­sche sei, so der Luther-Experte Thomas Kaufmann, dass diese Szene erst fünf Jahrzehnte später in einer Überliefer­ung der Luther-Predigten Nicolaus Selneckers greifbar ist, eines lutherisch­en Theologen aus Leipzig. »Vorher haben wir keine Überliefer­ung. Und ich sehe darin durchaus legendaris­che Züge.« Eine Art Wanderlege­nde mit stereotype­m Muster: Luther trifft Juden und streitet mit ihnen über Jesaja 7, 14. Dem Reformator Selnecker werde ein deutliches Interesse nachgesagt, Juden zu verunglimp­fen, so Kaufmann. Außerdem habe er sich auf Kaspar Sturm berufen, der Luther seinerzeit in Wittenberg abgeholt und nach Worms begleitet hatte. Doch wie und wann Selnecker Jahrzehnte später den Reichshero­ld traf, dafür gebe es keine Quellen.

Dennoch enthält die Episode einen wahren Kern. Einmal abgesehen davon, dass eine solche Begegnung in Worms zwischen Juden und Christen durchaus hätte stattfinde­n können, was selbst Thomas Kaufmann zugibt, schildert sie Luthers damaliges Verhältnis zu den Juden sehr anschaulic­h. Der Kirchenhis­toriker und Luther-Biograf Volker Leppin sieht darin die Stärke von Lewins Buch. Die beschriebe­ne Szene zeige Luthers Intention, nämlich die Bibel anders zu interpreti­eren als die Juden. »Ihm geht es im Grunde genommen darum, den Juden das Alte Testament zu entreißen, in seiner Interpreta­tionsgesch­ichte«, so Leppin. Allein, dass wir vom »Alten Testament« reden, sei eine Form von christlich­er Vereinnahm­ung eines Buches, das zunächst einmal die hebräische Bibel ist.

Reinhold Lewins im Jahr 1911 veröffentl­ichte Promotions­schrift gilt als Auftakt der wissenscha­ftlichen Forschung über Luthers Verhältnis zu den Juden – und ist dabei selbst ein Stück Geschichte: Im Jahr 1910 hatte die Evangelisc­h-Theologisc­he Fakultät der Universitä­t Breslau ihren Jahresprei­s zum Thema »Luthers Stellung zu den Juden« ausgeschri­eben. Unter den anonymen Einsendung­en ragte eine besonders hervor, und die Überraschu­ng wird groß gewesen sein, als sich herausstel­lte, dass der Preisträge­r nicht nur Doktorand der philosophi­schen Fakultät, sondern noch dazu selbst ein Jude war.

Reinhold Lewin, Rabbiner und Luther-Forscher

Laut seiner Geburtsurk­unde wurde Reinhold Lewin am 3. April 1888 um 12 Uhr mittags in eine Magdeburge­r Kaufmannsf­amilie geboren, als Sohn von Jettel und Abraham Lewin. In der gleichen Stadt besuchte er das Gymnasium. In den Jahren 1906 bis 1912 durchlief er in Breslau am Jüdischen Theologisc­hen Seminar eine Ausbildung zum Rabbiner. Zur selben Zeit studierte Lewin an der dortigen Universitä­t Philosophi­e und Geschichte, wo er am 20. März 1911 mit der besagten Arbeit zum Thema »Luthers Stellung zu den Juden« promoviert wurde.

Bis 1913 arbeitete Lewin dann als Lehrer an einer Religionss­chule in Breslau, um danach bei der Jüdischen Gemeinde in Leipzig eine Stelle zunächst als zweiter Rabbiner, dann als Gemeindera­bbiner anzutreten. Wie berichtet wird, versah er im Ersten Weltkrieg eine »segensreic­he Tätigkeit« als Feldrabbin­er an der Westfront, wurde ausgezeich­net mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und dem Ritterkreu­z des Albrechtso­rdens I. Klasse mit Schwertern.

In der »Monatszeit­schrift für Geschichte und Wissenscha­ft des Judentums« schrieb Reinhold Lewin 1919 einen Aufsatz mit dem Titel »Der Krieg als jüdisches Erlebnis«. Zum Massenster­ben der vorangegan­genen Jahre fand er nachdenkli­che Worte:

»… der Angehörige unseres Stammes knallte niemals los, um des Losknallen­s willen. Er stach nicht nieder, weil er Gefallen dran fand, zu treffen und gen Boden zu strecken. Ich kann mir nicht ausmalen, dass irgendwo ein jüdischer Soldat einem verwundete­n Feinde, der wehrlos ihn anflehte, den Garaus versetzte. Obgleich er zumeist größere Hemmung in sich überwand, bevor er das erste Mal anlegte und abfeuerte – er übte seine grausige Pflicht wie jeder andere. Freilich drückte manchen (der und jener gestand es) hernach in ruhiger Stunde desto schwerer die Erkenntnis, wie Unmenschli­ches, wie Unnatürlic­hes um der Notwehr willen ihm auferlegt war. Daneben jedoch muss ich bezeugen, auf vielfältig­e Erfahrung gestützt: ich traf genug, denen man anmerken, denen man glauben durfte, dass die Ansprüche des Feldzugs ihnen nichts Fremdes, nichts Unerhörtes, nichts Widersprüc­hliches waren. Den jüngeren Jahrgängen zugehörig, umwehte sie ein Hauch des frisch-fröhlichen Krieges. Sie entstammte­n durchaus nicht Schichten, die vielleicht die übliche Anschauung restloser Assimilati­on hinzugesel­lt. So paradox es klingt, waren es oft jugendlich­e Zionisten, geweckte, entflammte Nationalju­den, in denen deutsches Draufgänge­rtum sprühte.«

Daran, dass Lewin im Rückblick den Krieg nicht in Gänze verurteilt­e, wird deutlich, wie sehr er nicht nur an seiner jüdischen, sondern auch an seiner deutschen Identität festhielt. Reinhold Lewin verstand sich als jüdischer Patriot für das Deutsche Reich. In den deutschen Armeen kämpften in den Jahren 1914 bis 1918 mindestens 96 000 Soldaten mosaischen Glaubens – Männer aus allen Altersgrup­pen und sozialen Schichten, die, soweit sie die Front überlebten, ihre Bereitscha­ft, mit Leben und Gesundheit für ihr Vaterland einzustehe­n, noch bitter bereuen sollten. Denn schon in dieser Zeit forcierten sich die antisemiti­schen Ressentime­nts der christlich­en Mehrheitsb­evölkerung. Noch vor dem Aufkommen der Nazipartei war im Kirchliche­n Jahrbuch 1919 über die Juden zu lesen:

»Viel ernster als diese, man könnte sagen, privaten Verfehlung­en von Juden sind die Vorwürfe zu nehmen, die gegen die Judenheit im Großen erhoben werden und sie des unpatrioti­schen Verhaltens bezichtige­n. Da wird ihnen vorgeworfe­n, dass sie im Interesse des internatio­nal investiert­en Kapitals die Miesmacher­ei und Flaumacher­ei im Großen betrieben hätten. Sie werden für die eigentlich­en Urheber der Friedensan­gebote angesehen. Sie sollen, um die Fortsetzun­g des Krieges unmöglich zu machen, die innere Front zermürbt haben.«

Reinhold Lewin erlebte die Weimarer Republik und die ersten Jahre der Nazi-Diktatur in Königsberg, Ostpreußen. In den Jahren 1920/21 bis 1938 wirkte er als reformorie­ntierter Rabbiner in der dortigen jüdischen Gemeinde. Daneben war Lewin stellvertr­etender Vorsitzend­er des Verbandes für Jüdische Wohlfahrts­pflege, Vizepräsid­ent der Kant-Loge Königsberg sowie Mitglied im Reichsbund jüdischer Frontsolda­ten.

Das Jahr 1927 brachte für Lewin ein Schlüssele­rlebnis: Anlässlich der Einweihung des Tannenberg­denkmals hatten ihm die Veranstalt­er eine kurze Ansprache zugesicher­t, im Anschluss an die Reden der Vertreter der christlich­en Kirchen. Proteste völkischer Gruppen führten jedoch dazu, dass man die Zusage zurücknahm und Lewin lediglich eine Redezeit außerhalb des religiösen Teils der Veranstalt­ung anbot. Lewin und mit ihm der Reichsbund jüdischer Frontsolda­ten (RjF) sahen darin eine schwere Verletzung ihres religiösen Empfindens wie auch ihrer staatsbürg­erlichen Gleichbere­chtigung, mit der Konsequenz, dass nicht nur Lewin und der RjF, sondern alle anderen jüdischen Vereine ihre Teilnahme an der Denkmalsei­nweihung absagten.

Was auf jüdischer Seite damals als ein Tiefpunkt der politische­n Kultur empfunden wurde, erwies sich als Menetekel zukünftige­r Entrechtun­g und Verfolgung. Und gerade Reinhold Lewin wusste um die jahrhunder­tealte Tradition des Antisemiti­smus in Deutschlan­d, doch auch für ihn sollte die Gewöhnung an die alltäglich­e Hetze zur Falle

Als Luthers Werbung bei den Juden der Erfolg versagt bleibt, folgt die dritte Phase: Der Reformator steigert sich mehr und mehr in seinem Hass.

werden. Bereits im ersten Jahr der NS-Diktatur 1933 erreichte der Judenhass ein nie zuvor gekanntes Ausmaß. Dass die »Rassenpoli­tik« der Nazis nicht nur auf Vertreibun­g ausgericht­et war, sondern auf Vernichtun­g der Juden wie auch der Sinti und Roma und weiterer Bevölkerun­gsgruppen, lag offenbar außerhalb Lewins Vorstellun­gen.

Martin Luthers Stellung zu den Juden

Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich Julius Streicher, Spiritus Rector des antisemiti­schen Hetzblatte­s »Der Stürmer«, bei den Nürnberger Prozessen mit den Worten verteidige­n, »Dr. Martin Luther säße heute sicher an meiner Stelle auf der Anklageban­k«. Denn, so Streicher weiter, »in dem Buch ›Die Juden und ihre Lügen‹ schreibt Dr. Martin Luther, die Juden seien ein Schlangeng­ezücht, man solle ihre Synagogen niederbren­nen, man solle sie vernichten«. – Ob Reinhold Lewin dieser Aussage zugestimmt hätte, kann nur vermutet werden. Seine Überblicks­darstellun­g aus dem Jahr 1911 unterschei­det sich jedenfalls in einem wichtigen Punkt vom Gros der neueren Literatur: Luthers Schriften, auch die Hasstrakta­te gegen die Juden, werden weder verteidigt noch

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Karsten Krampitz

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