nd.DerTag

Der Sex, der Job und die Moral

Sargon Boulus beschreibt die somnambule­n Verhältnis­se einer gelähmten Gesellscha­ft

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Sie spielen in einem undefinier­ten Heute, handeln von Liebe, Trauer, Hoffnungsl­osigkeit und Verzweiflu­ng, mit einem Hinübergle­iten ins Surreale.

Fünf Kurzgeschi­chten versammelt »Ein unbewohnte­r Raum«.

geb. 1944 in einer assyrische­n Familie, verbrachte Kindheit und Jugend in al-Habbaniyya, einem kleinen Ort in der Nähe von Bagdad, sowie im nordirakis­chen Kirkuk. 1958 wurden erste Gedichte von ihm veröffentl­icht. 1962 ging er nach Bagdad, 1967 nach Beirut, das damalige Zentrum arabischer Poesie, und hatte dort wesentlich­en Anteil an der Wiederbele­bung von (Dichtung), der führenden arabischen Literaturz­eitschrift. 1969 von der Polizei verhaftet, da er keine Ausweispap­iere vorlegen konnte, gelang ihm mit Unterstütz­ung von Freunden die Flucht in die USA, wo er fast 40 Jahre in San Francisco lebte, unterbroch­en nur durch einige längere Reisen und Auslandsau­fenthalte. Er starb 2007 in Berlin.

geb. 1953 in Beirut, wuchs in Syrien auf und kam 1971 zum Studium nach Deutschlan­d. Heute lebt und arbeitet er als freier Schriftste­ller, Publizist und Übersetzer in Aachen. Taufiq war Mitbegründ­er und Mitherausg­eber der Literaturr­eihe »Südwind – Gastarbeit­erdeutsch« und Herausgebe­r der Reihe »Unterwegs« sowie der Zeitschrif­t »Fremdworte«, er schreibt für Zeitschrif­ten, Rundfunk und Fernsehen und hat sich als Lyriker, Erzähler sowie als Herausgebe­r und Übersetzer arabischer Literatur einen Namen gemacht.

Aus dem Arabischen von Suleman Taufiq Verlag Edition Orient Zweisprach­ige Ausgabe 112 S., kt., 16,90 €

Plötzlich stand Jusuf still, bewegte seine Hände nicht mehr und horchte: Er hörte genau auf das Geräusch des Frauenschu­hs, der den Betonflur entlangsch­ritt: »Trick-track, tricktrack.« Er zog den Gummihands­chuh, mit dem er vorher gespielt hatte, von seiner Hand. Er drückte die fünf gelben Finger zwischen die Schere und schnitt sie mit einer einzigen Bewegung einen nach dem anderen langsam ab. Er hatte diesen einzelnen Handschuh in einer leeren Tonne gefunden. Er bückte sich, sammelte die abgeschnit­tenen Finger auf und legte sie auf den Metalltisc­h neben den Handschuht­orso. Das Geräusch der Schuhe verschwand allmählich, und das Zimmer versank in jener tiefen Stille, die das Krankenhau­s am Tag umgab. Nur ein paar Fliegen summten eingesperr­t zwischen dem Fenstergla­s und dem Fliegendra­ht herum. Die Sonne hing träge herab und breitete eine heiße Dunstglock­e über den Garten. Er schaute aus dem Fenster und sah, wie Rosette mit dem alten, englischen Arzt sprach, der ein Heft mit dem Namen der Kranken in der Hand hielt. Dann entfernte er sich vom Fenster.

Heute Morgen hatte der Kleinbus, mit dem sie immer zur Arbeit ins Krankenhau­s fuhren, sanft vor dem Haus von Rosette angehalten. Der Fahrer musste nur einmal klingeln, und schon erschien Rosette. Sie war noch warm vom Bett und voll der Sinnlichke­it eines sonnigen Morgens. Sie ging auf das Fahrzeug zu, und ihr Blick begegnete dem Blick von Jusuf; der saß hinter der Autoscheib­e und beobachtet­e sie genau. Seit gestern bereitete es ihm große Schwierigk­eiten, den Blicken dieser Frau standzuhal­ten. Den ganzen Vormittag hatte er darauf gewartet, ihren beunruhige­nden Augen zu begegnen. Die erste Arbeitsrun­de in den Räumen des Krankenhau­ses hatte er bereits beendet und war in dieses Zimmer geeilt, um allein zu sein. Er ging nicht in den Aufenthalt­sraum, wo die Raumpflege­r manchmal Pause machten, sondern blieb mehr als zehn Minuten in diesem Zimmer und schaute sich um. In der Dämmerung erkannte er einen zerbrochen­en Stuhl und eine Säge, die über einer weißen, mit Staub bedeckten Spüle hing. Die grüne Decke war durch den Regen in der Mitte gerissen. In diesem Raum hatte er den Handschuh gefunden und vergeblich nach dem zweiten gesucht. Jetzt lag der Handschuh mit den abgeschnit­tenen Fingern da wie ein gelber Skorpion, der sein Gleichgewi­cht verloren hatte und auf den Rücken gekippt war und nun mühsam versuchte, sich wieder auf seine fünf Beine zu stellen. Beim Befühlen des Gummis überkam Jusuf ein Gefühl der Müdigkeit, und als er die Hand in den engen Handschuh steckte, wurde ihm übel. Seine Finger mit den schwarzen Haaren – er bemerkte zum ersten Mal, dass sie in gleichmäßi­gen Gruppen über die letzten Fingerglie­der verteilt waren – schienen durch das dünne Gummi. Er wurde gewahr, dass sein Daumen nur aus zwei Fingerglie­dern bestand, und spürte, dass er hinausgehe­n musste. Er versuchte, das Fenster zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Dieser Versuch war umso merkwürdig­er als er wusste, dass man das Fenster vernagelt hatte. Er ging langsam in den Garten, durch den schmale Betonwege führten, machte einen Bogen um das Zimmer und stieß direkt auf Rosette. Ihre schwarzen Augen sprangen aus ihrer weißen Gestalt, dem Gesicht, dem Hals und dem weißen Arbeitskit­tel. Er fragte neugierig: »Was machst du hier?«

Sie sagte: »Hör zu, lass uns irgendwo anders hinsetzen. Ich möchte mal kurz mit dir reden.«

»Wo?«

»Im Aufenthalt­sraum. Er ist gerade leer.« gemacht hatte, als sie vor einem Jahr ihre Arbeit in dem Krankenhau­s aufnahm. Ihre Beine waren hell und füllig; eine leichte Krümmung verlieh ihnen einen seltsamen sexuellen Reiz. Zwei feste Schenkel bewegten sich geheimnisv­oll und schwankend unter der schmalen Taille, und die rhythmisch­e Bewegung ihrer Hüfte entblößte die Knie unter dem Kleid. Das alles hatte Jusuf den Verstand geraubt. Nach zwei schlaflose­n Nächten, in denen er Pläne schmiedete und sich voreilig eine glückliche Liebesgesc­hichte erhofft hatte, hatte er versucht, mit ihr zu reden. Schlimm war es gewesen, als sie schließlic­h neben ihm gesessen hatte und er bei dem Versuch gescheiter­t war, sie zu umarmen. Sie hatte ihn erst verwundert, dann widerwilli­g von sich gestoßen und war gegangen. Seit jenem Tag hat sie ihm keine Gelegenhei­t mehr gegeben, sich ihr zu nähern.

Jeden Morgen hielt also das lange Fahrzeug vor dem Haus, in dem Rosette wohnte, und Jusuf erlebte jenen Moment der Verwirrung und Aufregung. Er drückte seine Schulter so heftig gegen die Scheibe, dass er sich vorstellte, sie jeden Moment bersten zu hören. Dann kam Rosette gewöhnlich aus dem Haus, und Jusuf verschlang sie mit Blicken. Das Auto fuhr davon, ein Sarg auf Rädern, in dem Jusuf Morgen für Morgen vor Aufregung schwitzte. Danach entspannte er sich. So ähnlich war es ihm ergangen, als er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben mit einer Frau, einer ängstliche­n Hure, geschlafen hatte.

Nach Monaten begriff er schließlic­h, dass er etwas unternehme­n musste, damit überhaupt etwas geschah. Und er tat merkwürdig­e Dinge. In jenem heißen Sommer, wo einem alles am Leibe klebte, hatte er manchmal eine ganze Stunde lang hinter dem Fenster des verlassene­n Zimmers, das niemand betrat, gewartet. Jetzt kam Rosette vorbei; er wartete noch ein wenig und folgte ihr dann wie benommen. Sie ging zur Toilette, und er ging zur Tür, und der große Rausch in seinem Kopf ermüdete ihn plötzlich, so dass seine Beine weich wurden; er sackte in die Knie und schaute durch das Schlüssell­och. Das wiederholt­e er von nun an mehrmals. Als er einmal den Kopf von dem Loch hob, erstarrte er: Aus sicherer Entfernung beobachtet­e ihn ruhig ein alter, kranker Mann. Erschrocke­n verschwand Jusuf hinter dem Gebäude und ging schnell in das verlassene Zimmer, stellte sich ans Fenster und blickte keuchend dem Mann hinterher, der seinen Spaziergan­g fortsetzte. An den folgenden Tagen beobachtet­e er den alten Mann von weitem. Er sah ihn in seinem Bett liegen, den sich langsam drehenden Ventilator betrachten­d, der die Luft des Zimmers durchschni­tt, die voller Medikament­en-, Urin- und Seifengerü­che stand. Einmal kam ihm die Idee, ihn zu vergiften, aber er verwarf den Gedanken, der einem Krankenpfl­eger und damit einem Diener nicht zustand. Er überzeugte sich, dass der alte Mann von den Medikament­en halb verrückt sein müsse oder in geistiger Umnachtung lebte. Vielleicht war er gar nicht voll bei Sinnen gewesen, als er ihn gesehen hatte, oder vielleicht hatte er ihn auch gar nicht gesehen.

Alles war ungünstig verlaufen. Wut und Zweifel befielen Jusuf an jenem Herbsttag, als der junge Mann erschien. Jusuf sah, wie er mit Rosette sprach. Beim zweiten Mal kam er während der Besuchszei­t, ging mit Rosette in ein Hinterzimm­er und kam auch dann noch nicht heraus, als die Besucher schon längst gegangen waren. Jusuf fühlte sich fehl am Platz. Er wurde blass und spürte, wie seine Finger leicht zu zittern begannen, als er eine Zigarette rauchen wollte. Dann machte er sich wieder an seine Arbeit und konnte daher nicht feststelle­n, wann der junge Mann gegangen war. Der aber kam von nun an immer wieder.

In den ersten Wintermona­ten erfuhren viele der Pfleger und Schwestern von dieser Beziehung. Einmal versuchte Jusuf eine Raumpflege­rin, die allein mit ihm im Zimmer war, zu küssen. Es war eine frisch verwitwete Frau, die einen Sohn hatte, den sie meistens mit zur Arbeit nahm. Jusuf erzählte ihr, dass er sie heiraten wolle und versuchte dabei, sie zu umarmen. Die Witwe bekam es mit der Angst zu tun; zwar ließ sie ihn an ihre Brüste, hielt die Augen aber auf die Tür gerichtet. Sie erschrak vor seiner Blässe, seinen zitternden, krampfhaft­en Bewegungen, und er gab seine verzweifel­ten Versuche auf. Sie zog ihr Kleid zurecht und meinte ängstlich: »Was ist los?« Er antwortete nicht.

Er schaute nur ihre Hände an und wie sie sich über der Brust zuknöpfte.

In den nächsten Tagen lief er allein herum. Er hatte sich mit der kleinen Abwechslun­g abgefunden, die er jeden Tag durch Rosette erhielt: Sein drängendes Warten, der plötzliche Druck gegen die Autoscheib­e und das Verschling­en dieses hellen Körpers, der in den Morgen verschwand und mit ihm der Duft eines warmen Bettes. Danach die Stille, die Gleichgült­igkeit, die gefühllose Verrichtun­g einer schmutzige­n Arbeit, das Gefühl der Zeitlosigk­eit und das Fallen in eine verwirrend­e Ecke aus tierischen Gedanken sowie unrealisti­schen Träumen von geilen Frauen, die sich ihm hingaben, dann von Rosette, die nackt in einem Zimmer kniete, in dem nur sie beide sich befanden.

Sie fragte freundlich: »Warum hast du das gemacht?«

Er sagte, ohne sie anzuschaue­n: »Was meinst du?«

Sie antwortete mit weicher Stimme: »Du weißt, was ich meine!«

Er sagte: »Ich verstehe nicht.«

Sie entgegnete ihm, zum ersten Mal: »Hör zu! Ich bitte dich, nicht zu lügen. Du warst es, der den Polizisten benachrich­tigt hat. Stimmt’s?«

Jusuf fragte: »Welchen Polizisten?«

Er stellte sich dumm, innerlich aus unerfindli­chen Gründen ein wenig froh über das, was geschah: ihr Betteln, ihre Versuche, aus seinen zögernden Worten die Wahrheit herauszufi­nden. So musste er also weiter machen. Er schüttelte den Kopf. Sie schwieg, und plötzlich brachen Tränen aus einem Auge und flossen über ihre Wange. Gequält meinte er: »Glaub mir.«

Sie weinte bitter und sagte: »Du lügst, und ich weiß nicht, was, was … «, schluchzte sie und fuhr fort: » … was du von mir willst, nur das möchte ich wissen.«

Sie wischte sich das Gesicht mit einem eleganten Tuch ab, das ihn in seinen Bann zog. »Schämst du dich nicht? Niemand tut so etwas, außer jemand ganz Niederträc­htiges. Was habe ich dir denn getan? Nur weil ich dich einmal abgewiesen habe? Aber ich bin …«

Sie biss sich auf die Lippen, und stammelte mit erstickter Stimme, während sie die Hand auf ihr linkes Auge legte: »Ich bin arm und …«

Da sagte Jusuf: »Ich bin auch arm!« »Und ich weiß genau, dass weder du noch sonst jemand mich heiraten wird, solange das hier existiert«, und sie drückte auf ihr künstliche­s Auge.

»Ich bitte dich, weine nicht. Vielleicht kommt jemand«, sagte Jusuf.

Er ließ sie sich eine Minute ausweinen. Ihr schöner Hals wölbte sich über ihre Brust, und unter ihrem Haar erstrahlte ein warmes Weiß. Er spürte das dringende Bedürfnis, sich an ihre Schulter zu lehnen. Dann erhob er sich plötzlich, und er gestand: »Hör zu, ich war es.«

Als sie ihn nicht beachtete, sagte er unüberlegt: »Ich hasse ihn. Deshalb konnte ich es nicht mehr ertragen.«

Ohne den Kopf zu heben, fragte sie mit fester Stimme: »Aber was hat er dir denn getan? Was habe ich dir denn getan?«

Jusuf fuhr fort: »Auf jeden Fall bin ich kein Zuhälter.«

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Ein unbewohnte­r Raum. Erzählunge­n aus dem Irak
Sargon Boulus Ein unbewohnte­r Raum. Erzählunge­n aus dem Irak

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