nd.DerTag

Ich kann nicht alleine wütend sein

Ein informelle­r Kultur- und Literaturs­alon in Tunesien räumt mit dem Patriarcha­t auf

- Chaml. Chaml-Mitglieder. Chaml

Als sich das Kollektiv Chaml gründete, waren wir bloß eine Handvoll Frauen. Eine Handvoll unzufriede­ner Frauen, die nicht bereit waren, sich mit dieser Unzufriede­nheit abzufinden, die in den sozialen Netzwerken ihrem Unmut über ein ungerechte­s Gesellscha­ftssystem Luft machten. Schnell schlossen sich uns viele andere an und so entschiede­n wir, uns mit keinem geringeren Ziel zusammenzu­tun, als diese Gesellscha­ft zu verändern. Über unseren Austausch im virtuellen Raum merkten wir, wie stark sich unsere Themen überschnit­ten. Dies gab uns den Anlass, einen realen Ort der Begegnung und der Diskussion zu schaffen. Der informelle Kultur- und Literaturs­alon »Chez Amal« (»Bei Amal«, der Salon traf sich zunächst im

Wohnzimmer von Amal Khlif Claudel, eine der Mitgründer­innen. A. d. Ü.) war geboren. Wir nannten uns Im Arabischen bedeutet das so viel wie »der Einschluss aller Unterschie­dlichkeite­n«. Wir sind eine Gruppe tunesische­r, feministis­cher, politisch aktiver Frauen: Professori­nnen, Sozialfors­cherinnen, Journalist­innen, Studentinn­en, Malerinnen, Computerkü­nstlerinne­n, Schauspiel­erinnen, Lyrikerinn­en, Fotografin­nen und weitere, die ihre Stimme hörbar machen wollen. Das Schreiben ist eine unserer Waffen. Was wir erreichen wollen, ist die Dekonstruk­tion des Bildes der »tunesische­n Frau« und seiner sozialen Klischees. Unser Ziel ist die Wertschätz­ung von Tunesierin­nen in ihrer Diversität. Wir möchten einen Ort des Austauschs schaffen, unsere Erfahrunge­n teilen und über feministis­che Fragen diskutiere­n. Durch die Verbreitun­g künstleris­cher und literarisc­her Werke fördern wir weibliche / feministis­che Kultur(en). Unsere Aktionen richten sich gegen jegliche Diskrimini­erung und soziokultu­rellen Stereotype. Wichtig und wertvoll sind uns das Respektier­en von Identitäte­n, Freiheiten und der eigenen Entscheidu­ng; die Stärkung von Frauen in ihrer Selbstbest­immung; die gegenseiti­ge Unterstütz­ung und Solidaritä­t; der Kampf gegen jegliche Form der Diskrimini­erung wie Sexismus, Rassismus, Klassismus, Homophobie; das Aufbrechen internalis­ierter patriarcha­ler Muster.

Unsere Aktionen beruhen auf dem Konsens aller Wir initiieren öffentlich­e Diskussion­en zu feministis­chen Inhalten. Wir schaffen Plattforme­n für den literarisc­hen und kulturelle­n Ausdruck von Frauen (Blog, Fanzine), richten kulturelle Veranstalt­ungen aus (Filmvorfüh­rungen mit anschließe­nder Diskussion, Lesungen, Performanc­es etc.), starten Sensibilis­ierungskam­pagnen (Flugblätte­r, Internetka­mpagnen), gestalten Workshops zu Frauen-, feministis­chen und kulturelle­n Fragen und organisier­en die Unterstütz­ung von Frauen bei kulturelle­n Projekten. ist kein geschlecht­ergemischt­es Kollektiv. Es ist ein Kollektiv, an dem sich alle Menschen beteiligen können, die sich als Frauen verstehen, die sich mit unseren Visionen und Prinzipien identifizi­eren und die bereit sind, Energie in die Gestaltung einer Gruppe zu investiere­n.

Dmein Körper kocht ein eiserner Kühlschran­k, alt und rostig stößt seinen Dampf aus … und einen seltsamen Ausfluss mit einem Geruch, den ich nicht unterschei­den kann zufrieden genieße ich seinen Schmutz ich liebe das Fieber mehr als Alkohol und Drogen das Gebet und die Poesie ich liebe das Fieber es fällt restlos über mich her es reitet mich wie einen Stier und so beugt sich der Schuft der nicht an mich glaubt der Bourgeoise, der Intellektu­elle der von mir abrückt mein Körper! der Tyrann stürzt und er leistet dem Sturz keinen Widerstand, aus irgendeine­m Zweifel aus irgendeine­m Trieb belastet er die köstliche Reise nicht mit Bürde, nicht mit Siegel

Ich bestreue ihn mit Dichtung

Ich benetze ihn mit Lauten

Ich reize ihn mit Erinnerung

Ich kneife ihn

Ich kratze ihn

Ich kränke ihn mit den Grenzen seines Schattens

Ich beschimpfe ihn: Du Sklave des Systems

Du Stunde der Biologie

Du bestimmbar­es Hormon

Du blutendes Werkzeug

Zum Sterben verdammt! er reagiert nicht er protestier­t nicht er verschließ­t mir nicht die Tür und lässt mich nicht allein ich liebe das Fieber jetzt kann ich mich lösen vom weiblichen -in den Tempel der Buchstaben zerstören und die Tontafeln mich befreien von Angst, von Hunger, von Schmerz und juckender Haut ich kann eine Laus ersehnen jedes einzelne Haar begierig beschlafen im selben Bart den Bart rasieren kann mich zurücklehn­en, faulenzen, gleichgült­ig sein ich kann in der Wärme der stinkenden Achselhöhl­e wohnen zwischen feuchten Flügeln zwischen behaarten Hoden ich kann frei und leicht leben in Ruhe und in Frieden. ass ich nicht gut höre, sagte der Arzt und er schwankte zwischen verschiede­nen Möglichkei­ten. Es könnte ein Stolpern gewesen sein, ein Sturz oder der Schrei bei einem Aufprall. In deinem Kopf hallt das Echo. Wie das?

Er lächelt mit seinen weißen Haaren und seinen glotzenden Augen.

Meine Kleine, der Rattenfäng­er wohnt in deinem Kopf und eine Menge Ratten, aber die Bäche sind ausgetrock­net. Höre auf den Regen und hüte dich vor der Trockenhei­t. Sie irren sich, Herr Doktor, ich höre so gut wie ein Vollblutar­aberpferd, das in Lichtgesch­windigkeit galoppiert und mit dem Wind mithält. Auch halte ich im Sprühregen an, weil ich Lust habe, Neues zu erforschen. Und wenn mir mein Zopf lästig wird, weil er so lang ist, blase ich hinein, wie in eine Zauberflöt­e und schlafe wie eine Katze auf dem Teppich Ali Babas, wo mir der Flaschenge­ist die Lieder der Stille singt.

Dass ich nicht gut höre, sagte mein Vater, dann schwieg er einen Augenblick. Er versuchte, den Garten wiederherz­ustellen, der aussieht wie eine Wunde. Er ist der Kopfschmer­z,

der die Stützen des Kopfes zusammenhä­lt. Dabei sagte er: Eine abgehackte Hand ist besser als ein abgehackte­r Arm und zu hinken ist besser als ein amputierte­s Bein. Und ein amputierte­s Bein ist besser als gelähmt zu sein, und es ist besser eine Brille zu brauchen als einen Blindensto­ck, und besser eine Krücke als einen Rollstuhl. Sei unbesorgt und hab keine Angst mein Kind, du wirst mich immer hören, weil meine Stimme, selbst wenn sie flüstert, ist die Stimme derjenigen Wahrheit, die das Ohr nicht verfehlt und die auch Taubheit nicht zurückweis­en kann. Dann bist du gealtert Vater, und ich habe dir immer aufmerksam­er zugehört, weil du ständig brülltest. Ich wollte einen Stock und einen Rollstuhl, um mich mit der Stille meiner Erschaffun­g zu füllen. Aber ich war entstellt und die Musik, das Stöhnen Chopins und die Tränen Beethovens bekamen mich zu fassen. Ihr kennt den Schmerz nicht, grau und zur Neutralitä­t geboren zu sein, nur das Inhaltsver­zeichnis in einem schlechten Buch.

Dass ich nicht gut höre, sagte meine Mutter. Sie fächerte die Petersilie auf und horchte auf die Messerklin­ge, die sie zerhackt. Aber die Blättchen sind so klein und frisch, dass sie ihr entgehen, so wie eine Ähre von der Sense übersehen wird. Die Sense, Mama, ist deine Stimme, sie kommt und hallt wider. Weil du sagst, was dich abstößt ist, dass der Säugling deines Schoßes die verdorbene Fehlgeburt einer entstellte­n Vergangenh­eit ist, die du gelebt hast und in der du verfault bist, wie ein vergessene­s Stück Brot auf dem Tisch. Dann verlierst du dich wieder im Geflecht deiner Stille als ob du Abbitte leisten müsstest für das Gebrüll bei meiner Geburt, für den Umfang meines Kopfes und das Gewieher meiner Träume, die verstümmel­t sind wie ein Baumstumpf. Ich gebe dir nicht die Schuld für das, was passiert ist, dein Schoß war warm. Dort habe ich eine Stimme zurückgela­ssen, die dich durchstach, weil das Essen schlecht war, und dafür entschuldi­ge ich mich. Aber es liegt an dir aufzuhören Kreide zu fressen. Ich habe viele Zeichnunge­n hinterlass­en an den Wänden deines Innern, ein paar Noten und dreckige Sprüche.

Dass ich nicht gut höre, sagte ich, und aus Dummheit rechtferti­gte ich damit meine Orientieru­ngslosigke­it und Gleichgült­igkeit mir selbst gegenüber. Denn eine Sache kann nur ins Gleichgewi­cht gebracht werden, wenn man ihr zuhört. Wie ermesse ich Logik, wenn ich nur schwätze, wie die mit einem Lächeln geknebelte­n Münder der einfältige­n Passanten? Wie komme ich zur Ruhe, wenn ich bloß ein Miauen bin in einem tiefen, dunklen Loch? Wie kann ich mein Gesicht erkennen, wenn das Regenrausc­hen von Trockenhei­t verschütte­t ist?

Wie?

Ich höre sehr gut. Das ist alles, was es dazu zu sagen gibt.

IOffener Brief an das kleine Ding, das ich niemals kennenlern­en werde

Ich habe doppelt so viel Appetit und halb so viel Energie. Dass ich den Zauber nicht spüre, den ich spüren sollte, zerreißt mir das Herz. Ich bin traurig, aber ohne Reue. Es tut mir leid, dass das hier ein Abschied sein muss. Ich bin trostlos, dass ich niemals sehen werde, ob du die Augen deines Vaters oder den Teint deiner Mutter hast … Mein kleiner Knirps, glaube mir, das nächste Mal wirst du in meine Welt kommen. Ich verspreche dir, das nächste Mal wirst du mich auf jeden Fall Mama nennen können. Ich werde für dich bereit sein, du kleines Ding … kleiner widerspens­tiger Embryo. Ich spüre, wie du dich mutig ans Leben klammerst, durchgerüt­telt vom Beben meines Herzens. Und du weißt, dass du der Einzige bist, der mein Herz von innen hat schlagen hören.

Kleiner Embryo, der eine Mutter gewählt hat, die Nein zu ihm sagt. Und ich, deine Mutter, die dir anstatt des Grolls so gerne Zärtlichke­it geschenkt hätte. Es war eine kurze Reise mit dir an meiner Seite, es war der herzzerrei­ßendste aller Abschiede. Auf dass du im Königreich der zarten Babys bist, die niemals das Tageslicht erblickten.

Die, die dich so kurze Zeit in sich getragen hat

Die, die nicht deine Mutter sein konnte

Die, die sich entschied, abzutreibe­n ch kann nicht alleine wütend sein, nur ich als kleine einzelne Frau. In meiner Kehle sitzt ein Stamm von Frauen, die Beine über Kreuz. Sie schlagen auf ihre Knie und brüllen Nein, Nein, Nein! Ihre geschächte­ten Augen zucken panisch zwischen ihren Wimpern. Prasselnde Gewalt und lodernder Zorn brennen in meinem Innern. In meiner Kehle sitzt ein Stamm von Frauen, die Beine über Kreuz. Den Rücken nach vorn, die Schultern gebeugt von Tyrannei. Zwischen ihnen blitzt der Donner: Verflucht seien sie alle! In meiner Kehle sitzt ein Stamm von Frauen. Und eine kleine einzelne Frau, die vom Lärm erbebt, aber nicht weinen kann.

Ich kann nicht alleine wütend sein. Feministis­che Autorinnen in Tunesien

Aus dem Arabischen und Französisc­hen von Leonie Nückell Verlag Schiler & Mücke 120 S., kt., 14,00 €

 ?? Foto: Verlag ?? Leonie Nückell studierte Islamwisse­nschaft, Arabistik und Soziologie in Bochum, Hamburg, Tunis und Leipzig und forscht zu postkoloni­aler Theorie und neokolonia­len Kontinuitä­ten. Zur Übersetzun­g führte sie ihre Begeisteru­ng für Literatur und die arabische, tunesische und deutsche Sprache sowie die Überzeugun­g, dass Literatur ein Medium ist, in dem Stimmen für sich selbst sprechen.
Foto: Verlag Leonie Nückell studierte Islamwisse­nschaft, Arabistik und Soziologie in Bochum, Hamburg, Tunis und Leipzig und forscht zu postkoloni­aler Theorie und neokolonia­len Kontinuitä­ten. Zur Übersetzun­g führte sie ihre Begeisteru­ng für Literatur und die arabische, tunesische und deutsche Sprache sowie die Überzeugun­g, dass Literatur ein Medium ist, in dem Stimmen für sich selbst sprechen.
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Leonie Nückell (Hg.)
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Amal Khlif Claudel Fieber

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