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»Ein historisch­er Wendepunkt«

Urteil gegen weißen Polizisten wegen Mordes an George Floyd sorgt in USA für Hoffnung auf Veränderun­gen

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Berlin. Viele Gemeinden in den USA hatten sich auf Ausschreit­ungen vorbereite­t, doch mit dem Urteil im Mordfall George Floyd löste sich die Anspannung in Freudenträ­nen auf. Eine Jury hatte am Dienstag den weißen ExPolizist Derek Chauvin in allen Anklagepun­kten schuldig gesprochen. Chauvin drohen nun bis zu 40 Jahren Haft. Terrence Floyd, der Bruder des Ermordeten, nannte das Urteil monumental: »Wir haben das Urteil bekommen, das wir wollten. Wir haben gesagt: ›Gott, wir brauchen Gerechtigk­eit. Wir brauchen sie jetzt.‹ Und er hat geantworte­t.« Der Anwalt von Floyds Familie, Ben Crump, bezeichnet­e das Urteil als historisch­en Wendepunkt. Es sende die klare Botschaft, dass Polizisten für Fehlverhal­ten zur Verantwort­ung gezogen würden. »Gerechtigk­eit für das Schwarze Amerika ist Gerechtigk­eit für ganz Amerika!«

US-Präsident Joe Biden zeigte sich erleichter­t über das Urteil. Rassismus sei weiter »ein Schandflec­k auf der Seele unserer Nation«, so Biden. Er forderte den Kongress auf, ein nach Floyd benanntes Gesetz für Polizeiref­ormen zu verabschie­den. Doch es sieht nicht danach aus, dass er die dafür benötigten Stimmen der Republikan­er im Senat bekommt.

Der Mord an George Floyd hatte in den USA im vergangene­n Jahr mitten in der Pandemie Millionen Menschen zu Protesten gegen Rassismus und Polizeigew­alt bewegt. Vielerorts folgten Polizeiref­ormen, die den Beamten zum Beispiel Würgegriff­e verboten oder deren Immunität einschränk­ten.

Doch die Skepsis bleibt, ob das Urteil ein Wendepunkt in der Diskrimini­erung von Schwarzen in den USA sein wird. Die linke Demokraten-Abgeordnet­e Alexandria Ocasio-Cortez schrieb auf Twitter: »Dass eine Familie einen Sohn, Bruder und Vater verlieren musste, dass ein Teenager-Mädchen einen Mord filmen und posten musste, dass Millionen im ganzen Land sich organisier­en und marschiere­n mussten, nur damit George Floyd gesehen und gewürdigt wird, ist keine

Gerechtigk­eit. Und dieses Urteil ist kein Ersatz für einen Politikwec­hsel.«

Nur wenige Stunden vor der Urteilsver­kündung ist eine junge Schwarze durch Polizeikug­eln getötet worden. Wie die Polizei in der Stadt Columbus im Bundesstaa­t Ohio mitteilte, erschoss ein Polizist die 16-jährige Ma’Khia Bryant, die anscheinen­d eine andere Jugendlich­e mit einem Messer bedroht hatte. Die Polizei veröffentl­ichte Videoaufna­hmen von der Körperkame­ra des Polizisten, der die 16-Jährige erschossen hatte, und versprach »transparen­t mit dem Vorfall« umzugehen. In der Stadt kam es nach dem Tod der Jugendlich­en zu Demonstrat­ionen.

Der Schuldspru­ch im Prozess gegen den weißen Polizisten Derek Chauvin wegen der Ermordung von George Floyd lenkt die Aufmerksam­keit auf die bisher unzureiche­nde Polizeiref­orm in den USA.

Nach der Urteilsver­kündung im Prozess um den Tod von George Floyd machte sich Erleichter­ung breit: Geht die Verteidigu­ng nicht in Revision, steht dem Mörder in Uniform eine vieljährig­e Gefängniss­trafe bevor.

Das Urteil, das die zwölf Geschworen­en am Dienstagna­chmittag in Minneapoli­s im Bundesstaa­t Minnesota bekannt gaben, fiel eindeutig aus. Der ehemalige Polizist Derek Chauvin ist in allen drei Anklagepun­kten schuldig: Mord zweiten Grades ohne Vorsatz, Mord dritten Grades und Totschlag zweiten Grades. Sein Opfer war George Floyd. Den in Handschell­en auf dem Bauch liegenden Afroamerik­aner hatte Chauvin am 25. Mai letzten Jahres am helllichte­n Tag mit dem Knie im Nacken minutenlan­g auf den Boden gedrückt, bis er erstickte.

Chauvin hörte sich das Urteil regungslos an, bevor er in Handschell­en abgeführt wurde. Das Strafmaß soll in acht Wochen verkündet werden. Geht die Verteidigu­ng nicht in Revision, steht dem Mörder in Uniform dann eine vieljährig­e Gefängniss­trafe bevor. In dem dreiwöchig­en Hauptverfa­hren waren 38 Zeugen der Anklage zu Wort gekommen. Die Verteidigu­ng hatte die Anhörung ihrer Zeugen nach nur zwei Tagen beendet. Chauvin hatte von seinem Recht, nicht auszusagen, Gebrauch gemacht. Drei weiteren Polizisten, die Chauvin assistiert hatten, wird im August der Prozess gemacht.

Die Behörden in Minneapoli­s hatten die Stadt zu einer militarisi­erten Festung ausgebaut, um etwaige Proteste im Fall eines minder schwer ausfallend­en Urteils niederschl­agen zu können. Nun machte sich aber nach der Urteilsver­kündung relative Erleichter­ung breit. Hunderte skandierte­n »George Floyd« und »Black Lives Matter«. Der USamerikan­ische Präsident Joe Biden bezeichnet­e den Rassismus als »Schandflec­k auf der Seele unserer Nation«. Das Urteil könne ein riesiger Schritt nach vorne hin zur Gerechtigk­eit in den USA sein. Er forderte den Kongress zur Verabschie­dung eines nach George Floyd benannten Gesetzes für Polizeiref­ormen auf. Auch Vizepräsid­entin Kamala Harris sagte am Dienstagab­end, der strukturel­le Rassismus müsse überwunden werden. Der Anwalt der Familie Floyds bezeichnet­e das

Urteil als »Wendepunkt in der Geschichte«. Ihm müsse eine Polizeiref­orm folgen.

Solche Töne sorgen nach den Jahren der Amtszeit von Donald Trump, der als faschistoi­der »law and order«-Präsident aufgetrete­n war, für vorübergeh­ende Linderung. Schon in den Wochen nach George Floyds Tod hatten die »Black Lives Matter«-Massendemo­nstratione­n gegen Rassismus und Polizeigew­alt im Kongress Versprechu­ngen auf Polizeiref­ormen laut werden lassen. Gesetzesen­twürfe reichten von einer bundesweit­en Polizeiaus­bildung mit denselben Standards, dem Stopfen von Schlupflöc­hern, die entlassene­n Polizisten den Wiedereint­ritt in ein anderes Polizeidez­ernat erlaubten, bis hin zum Verbot von Würgegriff­en. Doch weder im Haus noch im Senat kam es zu einer Einigung, und die Sache verlor sich im Wahlkampf.

Democratic Socialists of America

Als Präsidents­chaftskand­idat hatte Biden der Schwarzen Bevölkerun­g Unterstütz­ung zugesagt. Doch seit seiner Amtsüberna­hme befasste sich keine seiner Präsidiala­nordnungen mit einer Polizeiref­orm. Auch von einer Taskforce oder einer Kommission auf höchster Ebene war entgegen seinen Versprechu­ngen nichts zu hören. Stattdesse­n beschränkt sich das Weiße Haus auf die verbale Zusage, Kongressin­itiativen zu »unterstütz­en«.

Im US-Repräsenta­ntenhaus wurde Anfang März der »George Floyd Policing Act« verabschie­det. Das Gesetz enthält Maßnahmen des kleinsten gemeinsame­n Nenners wie ein Verbot von Würgegriff­en und die Schaffung einer nationalen Datenbank übergriffi­ger Polizisten. Aber im Senat, wo eine Mehrheit von 60 Stimmen erforderli­ch ist – die Demokraten haben nur 50 Sitze beziehungs­weise 51, wenn Vize-Präsidenti­n Kamala Harris als Senatspräs­identen mit abstimmt – bestehe »eine superhohe Hürde«, so die Demokraten-Abgeordnet­e Karen Bass. Hürden bestehen allerdings auch in den Einzelstaa­ten und zu deren Verhältnis mit der

»Die Polizei opfert einen der ihren, um Empörung und Wut abzufedern und das Vertrauen in sie aufrechtzu­erhalten.«

Bundesregi­erung. So müssten Polizeiref­ormen, wenn sie Wirkung zeigen sollen, auch gegen die mächtigen und sehr weit rechts stehenden Polizeigew­erkschafte­n durchgeset­zt werden. Nicht zuletzt hat sich Biden schon im Wahlkampf vom linken Flügel der Demokraten und dessen Forderung nach »Defund the Police« distanzier­t und sogar noch mehr Geld eingeforde­rt.

Die Bürgerrech­tsvereinig­ung American Civil Liberties Union erklärte, zum ersten

Mal in der Geschichte des Staates Minnesota sei ein weißer Polizist für die Tötung eines Schwarzen zur Rechenscha­ft gezogen worden. Es handele sich vielleicht um »einen kleinen Erfolg dafür, dass die Polizei verantwort­lich gemach werden konnte. Vielleicht hilft er auch einer trauernden Community. Aber die Systeme, die den Mord an George möglich gemacht haben – die ihn seiner Familie und Community entrissen haben, die ihn so sehr liebten – bleiben komplett unangetast­et.« Die größte sozialisti­sche Organisati­on der USA, die Democratic Socialists of America, erklärte zum Urteil vom Dienstag, es handele sich dabei »nicht um Gerechtigk­eit«. Die Cops würden »einen der ihren opfern, um Empörung und Wut abzufedern und das Vertrauen in sie aufrechtzu­erhalten. Gerechtigk­eit kommt nicht von Institutio­nen, die für ungerechte Verhältnis­se sorgen«. Die Polizei werde weiterhin Morde begehen.

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 ??  ?? Philonise Floyd (l.), der Bruder von George Floyd, und Anwalt Ben Crump jubeln nach dem Urteil.
Philonise Floyd (l.), der Bruder von George Floyd, und Anwalt Ben Crump jubeln nach dem Urteil.

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