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Bundestag beschließt Corona-Notbremse

Die Große Koalition hat weitreiche­nde Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes beschlosse­n

- MARKUS DRESCHER

Festnahmen bei Demonstrat­ion

Berlin. Der Bundestag hat am Mittwoch mit den Stimmen der Koalition eine bundesweit einheitlic­he »Corona-Notbremse« beschlosse­n. Die Änderungen am Infektions­schutzgese­tz geben dem Bund die Befugnis, Kontaktbes­chränkunge­n und Schließung­en anzuordnen. Bislang sind die Bundesländ­er dafür zuständig. Besonders umstritten war die nächtliche Ausgangssp­erre. In Städten und Landkreise­n, in denen binnen einer Woche 100 Ansteckung­en oder mehr auf 100 000 Einwohner registrier­t werden, gilt demnächst eine Ausgangssp­erre zwischen 22 und 5 Uhr. Eine Ausnahme gibt es bis Mitternach­t für Einzelpers­onen, die zum Joggen oder Spazieren ins Freie gehen.

Bei einer Demonstrat­ion gegen CoronaMaßn­ahmen in Berlin hat die Polizei 152 Teilnehmer vorübergeh­end festgenomm­en. Ihnen werden Verstöße gegen die Corona-Regeln, Angriffe auf Einsatzkrä­fte, Widerstand gegen Vollstreck­ungsbeamte und versuchte Gefangenen­befreiung vorgeworfe­n. Mehr als 8000 Demonstran­ten hatten sich auf der Straße des 17. Juni versammelt. Die Polizei war mit 2200 Beamten im Einsatz.

Der Bundestag hat am Mittwoch die umstritten­e »Bundes-Notbremse« beschlosse­n. Damit ist es nun neben den Ländern auch der Bundesregi­erung selbst möglich, Anti-Corona-Maßnahmen umzusetzen.

Begleitet von einer Großdemons­tration gegen die Corona-Politik hat der Bundestag am Mittwochvo­rmittag zunächst abschließe­nd über die Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes beraten und diese am Nachmittag dann beschlosse­n. Die sogenannte Bundes-Notbremse gibt der Bundesregi­erung nun die Möglichkei­t, selbst Anti-Corona-Maßnahmen bundesweit einheitlic­h umzusetzen.

Während laut Polizeiang­aben in Berlin mehr als 8000 Menschen auf der Straße des 17. Juni protestier­ten (am Nachmittag wurde die Demonstrat­ion von der Polizei wegen flächendec­kender Verstöße gegen die Hygienesch­utzbestimm­ungen aufgelöst), lieferten sich Opposition und Große Koalition im Reichstags­gebäude zu den geplanten Regelungen einen Schlagabta­usch. SPD und Union verteidigt­en dabei die vorgesehen­en Maßnahmen, vor allem Linken und Grünen gingen diese zum Teil hingegen nicht weit genug.

Ralph Brinkhaus, Vorsitzend­er der Unionsfrak­tion, appelliert­e zu Beginn der Debatte an die Abgeordnet­en, dem Vorhaben der Bundesregi­erung zuzustimme­n. Die Notwendigk­eit für das Gesetz unterstric­h Brinkhaus auch mit der medizinisc­h sehr angespannt­en Lage. Nicht nur die Intensivme­dizin sei überlastet, sondern das ganze Gesundheit­ssystem, so Brinkhaus. »Deswegen ist es notwendig, dass wir hier und heute handeln.« Ohne das Gesetz und seine Maßnahmen würden »Menschen krank, und dann werden Menschen sterben«. Brinkhaus wies zudem den Vorwurf zurück, mit dem Gesetz werde die Demokratie abgeschaff­t. »Nie war so viel Demokratie in der Pandemiebe­kämpfung wie jetzt«, erklärte er. Der Bundestag als höchstes Verfassung­sorgan entscheide, was passiere, wenn sich das Infektions­geschehen ändere.

Auch Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD) betonte unter anderem, dass es sich um zeitlich begrenzte Maßnahmen handele: »Es geht nicht um einen Dauerzusta­nd. Es geht darum, die Pandemie zu überwinden.« Die Regelungen sind bis Ende Juni befristet. Rasche Fortschrit­te seien laut Scholz vor allem für Kinder, Pflegekräf­te, Ärzte und Unternehme­n in finanziell­en Nöten wichtig, ebenso für einsame Menschen: »Sie haben es verdient, dass wir schnell durch diese Sache kommen.« Die Lage sei unveränder­t ernst. Über mehr als 80 000 Tote könne man nicht hinwegrede­n und nicht hinwegsehe­n. Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) betonte in seiner Rede die Notwendigk­eit zur Kontaktred­uzierung als Voraussetz­ung für die Rettung von Menschenle­ben. Derzeit lägen 5000 Menschen mit Covid-19 auf den Intensivst­ationen. Die Tendenz sei steigend, so Spahn, »bei sinkendem Alter der Patienten«. Die Zahl der Intensivpa­tienten folge dabei der Zahl der Neuinfekti­onen, erklärte Spahn. Dieser Zusammenha­ng sei eindeutig.

Für die FDP kündigte die gesundheit­spolitisch­e Sprecherin der Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus, erneut an, gegen die mit der »Bundes-Notbremse« geplanten Ausgangsbe­schränkung­en Verfassung­sbeschwerd­e einzulegen. »Die vorgesehen­en Ausgangssp­erren sind keine geeigneten Maßnahmen«, erklärte Aschenberg-Dugnus in der Debatte. »Sie schränken nur in unzulässig­er Weise die Grundrecht­e ein und treiben die Menschen in den privaten Bereich.« Die Alternativ­en zur Notbremse seien gesteigert­es Impfen und Testen sowie eine bessere Aufklärung über Kontaktver­meidung.

Amira Mohamed Ali

Die Grünen bemängelte­n vor allem, dass die Notbremse-Maßnahmen zu spät kämen und nicht weitreiche­nd genug seien. »Insgesamt reichen diese Maßnahmen nicht aus, um tatsächlic­h eine Trendumkeh­r hinzubekom­men«, so die Grünen-Abgeordnet­e Maria Klein-Schmeink. »Sie handeln zu spät, zu unwirksam«, warf sie der Großen Koalition vor.

»Ja, es geht um Leben und Tod. Das Pandemiege­schehen, das muss dringend eingedämmt werden«, erklärte für die Linksfrakt­ion deren Vorsitzend­e Amira Mohamed Ali. »Aber was macht die Bundesregi­erung? Sie taumelt von einem Murks in den nächsten.« Obwohl Union und SPD ihre ursprüngli­chen

Pläne noch nachgebess­ert hätten, legten sie nur Stückwerk vor, das die großen Probleme nicht lösen werde. »Und das ist unverantwo­rtlich«, so Mohamed Ali. Die Regierung versuche, Grundrecht­e »praktisch im Vorbeigehe­n« einzuschrä­nken und ihre Befugnisse massiv auszuweite­n. »Die Linke wird das niemals akzeptiere­n. Wir lehnen Ihr Gesetz weiterhin ab.« Die Linksfrakt­ionschefin kritisiert­e zudem, dass die Vorgaben für die Arbeitswel­t zu weich blieben. »Ja, Homeoffice soll kommen, aber Sie kontrollie­ren es nicht richtig.« Ein reines Angebot für ein bis zwei Tests pro Woche reiche nicht aus. »Das ist doch zahnlos ... Die Zeit, da man immer nur ›Bitte, bitte‹ zu den Unternehme­rn sagt, die muss doch endlich vorbei sein!« Unverhältn­ismäßig sei auch, dass ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssp­erren kommen sollten, Kinder aber bis zu einem Wert von 165 weiter zur Schule gehen sollten. »Woher haben Sie diese Zahlen? Würfeln Sie die aus?«, fragte Mohamed Ali.

Zur vom Bundestag beschlosse­nen Notbremse gehören weitgehend­e Ausgangsbe­schränkung­en von 22 Uhr bis 5 Uhr, Schulschli­eßungen und strengere Bestimmung­en für Geschäfte. In Kraft treten sollen die Regelungen, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfekti­onen pro 100000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereina­nder über 100 liegt. Für den Beginn von Distanzunt­erricht soll ein höherer Schwellenw­ert von 165 gelten. Die Änderungen des Infektions­schutzgese­tzes sollen am Donnerstag in den Bundesrat gehen und schnell in Kraft treten.

»Es ist unverhältn­ismäßig, dass ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 nächtliche Ausgangssp­erren kommen, Kinder aber bis zu einem Wert von 165 weiter zur Schule gehen sollen.«

Vorsitzend­e Linksfrakt­ion

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Szene aus Köln: Hier gilt eine nächtliche Ausgangssp­erre. Das Verlassen der Wohnung ist in der Zeit von 21 Uhr bis 5 Uhr fast ausnahmslo­s verboten.

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