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Ohne genaue Kenntnis der Pandemiela­ge

Auch im neuen Infektions­schutzgese­tz sind Inzidenzza­hlen der zentrale Maßstab für Verschärfu­ng oder Lockerung. Doch die Werte sind kaum noch aussagekrä­ftig

- KURT STENGER

Experten aus der Wissenscha­ft schlagen seit Langem vor, sich in der Coronakris­e mehr an der gesundheit­lichen Lage als an Infektions­meldungen zu orientiere­n. Nun gibt es ein praxistaug­liches Verfahren.

Es waren die Tage nach Ostern, als auch dem letzten Beobachter klar wurde, dass der Inzidenzwe­rt als zentraler Maßstab für das Infektions­geschehen untauglich ist. Damals übernahm die infektiöse­re britische Mutante B117 endgültig das Kommando in der SarsCoV-2-Familie, und auch die privaten Feiertagst­reffen sprachen für eine deutliche Zunahme der Covid-19-Fälle. Doch die Zahlen des Robert-Koch-Instituts verkündete­n einen Rückgang der Infektione­n. Der Grund: Zahlreiche Gesundheit­sämter meldeten wegen der Feiertage Fallzahlen mit tagelanger Verspätung – ein Problem, das sich an jedem Wochenende etwas abgeschwäc­ht wiederholt.

Dennoch ist für die hiesige Corona-Politik die Inzidenz nach wie vor der zentrale Maßstab. Wegen des Datenprobl­ems hat man quasi als Krücke den Indikator der SiebenTage-Inzidenz gewählt: die Durchschni­ttszahl der gemeldeten Coronafäll­e je 100 000 Einwohner. Im Mai 2020 hatten Bund und Länder einen Wert von 50 zum Maß aller Dinge erklärt. Wissenscha­ftlich begründet wurde die Marke nie. Es hieß lediglich, bei mehr als 50 ließen sich Infektions­ketten nicht mehr durchbrech­en, da die lokalen Gesundheit­sämter die Kontakte nicht mehr nachvollzi­ehen könnten. Doch die Gegebenhei­ten in den Kommunen sind so unterschie­dlich, dass klar war, dass die Zahl willkürlic­h zwischen den politisch Beteiligte­n ausgehande­lt wurde. Schon damals erklärten einige Virologen, die kritische Marke liege eher bei 35. Andere wiederum forderten, als Maßstab einen Mix aus Inzidenz, Reprodukti­onswert, Todeszahle­n und Krankenhau­sbelegung zu wählen.

Im Frühjahr 2021 kam die 35 dann doch. Wegen der neu aufgetauch­ten britischen Mutante setzte Kanzlerin Angela Merkel dies bei einem Bund-Länder-Treffen durch. Um schon bald wieder davon abzurücken: Wegen verstärkte­r Tests und erster Fortschrit­te beim

Impfen tauchte plötzlich die 100 auf, ab der eine Notbremse zu ziehen sei. Die 50 wurde zur Marke für Lockerunge­n. Mit den diversen Wechseln machte die Regierung ihren Maßstab noch unglaubwür­diger. Dennoch taucht auch im jetzt beschlosse­nen Infektions­schutzgese­tz wieder eine neue Zahl auf: Ab einem Schwellenw­ert von 165 in einem Kreis oder einer Stadt müssen die Schulen schließen. Eine lokale Notbremse mit hartem Lockdown samt Ausgangssp­erre soll es geben, wenn die Inzidenz binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereina­nder über 100 liegt.

Auf ein praktische­s Problem dabei weist Alexander Kekulé hin, Virologe an der Martin-Luther-Universitä­t Halle-Wittenberg: Ein hoher Inzidenzwe­rt auf lokaler Ebene könne auf einen Cluster-Ausbruch in einer Fabrik oder einer Asylunterk­unft zurückzufü­hren sein, der längst unter Kontrolle ist. Trotzdem müsste ein harter Lockdown kommen.

Es gibt auch generelle Zweifel in der Wissenscha­ft: »Die Inzidenz ist kein guter Orientieru­ngspunkt für die Lage der Pandemie mehr«, sagt Gérard Krause, Leiter der Abteilung

Epidemiolo­gie am Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung in Braunschwe­ig. Der Grund: »Die Inzidenz entkoppelt sich von der gesundheit­lichen Lage.« So führe die starke Zunahme der Testaktivi­täten an Schulen zu deutlich höheren Fallmeldun­gen, aber nicht zu einer erhöhten Krankheits­last. Außerdem gehe in dem Maße, wie die vulnerable­n Gruppen geimpft werden, die Zahl der Erkrankung­en zurück, aber nicht unbedingt die der Infektione­n. Krause hält die Inzidenz zwar für einen wichtigen Wert, plädiert aber für mehrere Indikatore­n und ein Stufenmode­ll. Wenn man sich auf einen Wert festlegen wolle, dann seien die Neuaufnahm­ezahlen auf Intensivst­ationen am besten geeinigt. »Sie bilden die Dynamik zeitnah ab und sind ein guter Indikator für die Krankheits­schwere.«

Covid-19-Datenanaly­sten der LudwigMaxi­milians-Universitä­t München (LMU) haben kürzlich ein Verfahren für die Ermittlung eines neuen Schwellenw­ertes für die Lage auf Intensivst­ationen vorgestell­t. Laut dem Leiter des Statistisc­hen Beratungsl­abors der LMU, Helmut Küchenhoff, werden dabei die Zahl der Neuaufnahm­en – bundesweit sind es derzeit etwa fünf pro 100 000 Einwohner und Woche – und die zuletzt etwas gestiegene durchschni­ttliche Liegedauer der Patienten berücksich­tigt, um die Anzahl der belegten Betten zu bestimmen. Welcher Anteil an der Bettenkapa­zität für Covid-Patienten reserviert werden sollte, müsse zwar gesellscha­ftlich festgelegt werden. Die Statistike­r haben errechnet: Wenn es 30 Prozent wären, dann läge Nordrhein-Westfalen leicht darunter, Bayern knapp darüber und Thüringen wie Sachsen deutlich drüber. Bei diesem Verfahren könnten laut Küchenhoff auch Verlauf und Prognosen einfließen, was neben dem Grenzwert auch wichtig sei.

Solche Prognosen könnte etwa die Intensivme­dizinerver­einigung Divi liefern, die seit Wochen vor Grenzsitua­tionen warnt und auf die Überlastun­g von Ärzten und Pflegekräf­ten hinweist. Der Leiter des Divi-Intensivre­gisters, Christian Karagianni­dis, kann sich mit dem LMU-Indikator durchaus anfreunden. Er sei nämlich »viel robuster und weniger anfällig für tägliche Schwankung­en«.

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