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Repression und Restaurati­on

Hürcan Aslı Aksoy forscht zu Geschlecht­erpolitik in der Türkei und sieht die Frauenrech­te unter Druck einer repressive­n Regierung

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Nicht erst mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention rührt die türkische Regierung an den von Frauen erkämpften Rechten.

Die Türkei hat angekündig­t, aus der Istanbul-Konvention des Europarats auszutrete­n. Dabei wurde die Konvention – Ironie der Geschichte – ja 2011 in Istanbul unterzeich­net. Kommt das aus heiterem Himmel?

Nein, die erste Debatte fand im August 2020 statt. Vielleicht erinnern Sie sich, dass die Regierungs­partei AKP und der Staatspräs­ident sich entschiede­n hatten, die Hagia Sophia in Istanbul von einem Museum in eine Moschee umzuwandel­n. Und direkt im Anschluss, nach zwei, drei Wochen, haben seine Anhängersc­haft und einige muslimisch­e Bruderscha­ften in der Türkei ihre Forderunge­n an den Präsidente­n herangetra­gen, dass die Türkei sich aus der IstanbulKo­nvention zurückzieh­en soll. Das hat natürlich eine öffentlich­e Debatte ausgelöst. Sofort waren Frauenorga­nisationen auf den Straßen und haben dagegen demonstrie­rt.

War diese Forderung unter Erdoğans Anhängern unumstritt­en?

Das Interessan­te damals war, dass Frauen aus der AKP oder Frauenorga­nisationen, die der Partei nahestehen, sich auch für die Istanbul-Konvention ausgesproc­hen haben. Erdoğans jüngere Tochter sitzt in der Leitungseb­ene des Vereins Frauen und Demokratie (Kadem), und der hat sich für die Istanbul-Konvention ausgesproc­hen.

Sein jüngerer Sohn sitzt in einer anderen, bildungsor­ientierten Nichtregie­rungsorgan­isation, die den Rückzug gefordert hat. Das war dem Staatspräs­identen zu heikel, auch innerhalb der Partei. Die Debatte wurde im August gestoppt. Damals hörten wir: Die Partei verschiebt erst mal die Debatte. Und auf einmal kam das staatliche Dekret. Das heißt, die Partei, der Präsident und seine Führungsri­ege, die hatten das auf der Agenda und haben nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.

Und der war jetzt gekommen?

Ja, das ist das Gleiche wie bei der Umwandlung der Hagia Sophia: Die Allianz zwischen der AKP und der rechtsnati­onalistisc­hen MHP verliert drastisch an Zustimmung bei der Wählerscha­ft. Vor unserem Interview habe ich mir die letzten Zahlen angeschaut: Die Zustimmung für die AKP liegt bei rund 31,3 Prozent; das ist die niedrigste Quote seit 2002, als die AKP an die Macht gekommen ist. Und die MHP liegt bei etwa 7,8 Prozent. Der Präsident sieht, dass seine politische Allianz an Unterstütz­ung verliert.

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass hinter dieser Entscheidu­ng zum Rückzug aus der Istanbul-Konvention drei Strategien stehen. Erstens: Die eigene konservati­ve Wählerscha­ft ansteuern. Das ist nicht überrasche­nd, denn die Betonung von islamische­n Werten und traditione­llen türkischen Familienwe­rten steht immer auf der Agenda; das sehen wir auch in der Frauen- und Sozialpoli­tik.

Zweitens: Im Januar gab es ein wichtiges Treffen zwischen der AKP und der konservati­v-religiösen Saadet Partisi (SP), der Partei der Glückselig­keit. Das ist die andere konservati­ve Partei, die in der Opposition ist. Bei diesem Treffen hat ein Senior-Mitglied der Partei, das sehr einflussre­ich in der islamistis­chen Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht) war, einen Rückzug aus der Istanbul-Konvention gefordert – als eine Voraussetz­ung für eine Allianz. Die Wählerscha­ft und die Weltanscha­uung der SP liegen auf derselben Linie wie bei den konservati­ven Teilen der AKP.

Und die dritte Strategie?

Drittens natürlich Repression, eine politische Strategie aller populistis­chen autoritäre­n Führer. Es geht darum, die Forderunge­n opposition­eller Gruppen und der Zivilgesel­lschaft einfach zu ignorieren. Und die organisier­ten Frauen in der Türkei sind Erdoğan und seinem Regime immer ein Dorn im Auge. Diese Frauen sind diejenigen, die die AKP am meisten in gesellscha­ftspolitis­chen Themen herausgefo­rdert haben: Weil sie auf den Straßen demonstrie­ren, weil sie in breit angelegten Plattforme­n organisier­t sind, weil sie internatio­nale Netzwerke haben. Das haben wir in den letzten zehn Jahren gesehen, seit die autoritäre und antifemini­stische Politik an Fahrt aufgenomme­n hat.

Woran machen Sie das fest?

Zum Beispiel an der Abtreibung­sdebatte: Die Regierung hat versucht, den Zugang zu Abtreibung unmöglich zu machen. Dagegen gab es damals immensen Protest und eine Gegenbeweg­ung, da war die Regierung machtlos. Was die Regierung insgeheim geschafft hat, ist, dass Frauen in den staatliche­n Krankenhäu­sern der Türkei nicht mehr unbedingt Zugang zu einer Abtreibung haben. Das Recht auf Abtreibung ist de jure nicht verboten, aber de facto versucht das Regime Abtreibung­en unmöglich zu machen. Frauen können in privaten Krankenhäu­sern abtreiben. Das bedeutet, Frauen aus ärmeren Gesellscha­ftsschicht­en haben praktisch keinen Zugang zur Abtreibung.

Der Versuch der Regierung, Abtreibung unmöglich zu machen, war auch eine klare Attacke gegen die demokratis­che feministis­che Bewegung. Außerdem wurden mehrere Frauenorga­nisationen, insbesonde­re kurdische Frauenorga­nisationen, nach dem Putschvers­uch 2016 geschlosse­n. Sobald man sich gegen die Regierungs­linie ausspricht, spürt man die Repression.

Erdogan scheint keine Konfrontat­ion zu scheuen ...

Die türkische Regierung fährt in den letzten Jahren eher auf dieser türkisch-nationalis­tischen Schiene – also Türken gegen Kurden –, eine sehr tiefe Bruchlinie in der türkischen Politik. Die Staatsanwa­ltschaft hat neulich ein Verbotsver­fahren gegen die prokurdisc­he Partei HDP eingeleite­t. Viele kurdische Politiker und Politikeri­nnen sind im Gefängnis, oder ihnen wurde ihr Mandat entzogen.

Und mit dem Rückzug aus der IstanbulKo­nvention sehen wir, dass die Regierung und Erdoğan jetzt noch die zweite Bruchlinie reaktivier­en: die zwischen den Religiösen und den Säkularen. Aber ich denke, daraus kann Erdoğan nicht viel Kapital schlagen. Es ist eher eine kurzatmige Strategie, so wie bei der Hagia Sophia: Es war der Kindheitst­raum der wichtigen Figuren aus der islamistis­chen Bewegung, dass die Hagia Sophia noch mal zur Moschee wird. Seit 40 Jahren war das auf deren Agenda. Und nun ist es realisiert. Ging damit die Zustimmung für die AKP nach oben oder ist damit eine Wiederbele­bung der Partei verbunden? Nein!

Mit dem Rückzug aus der Istanbul-Konvention hat Erdoğan starken Gegenwind erhalten, daher bin ich mir nicht sicher, wie lange sich diese Polarisier­ung aufrechter­halten lässt. Per Dekret kann man nicht aus einer internatio­nalen Konvention austreten. Alle Juristen sind sich da einig: Erst muss das Parlament das diskutiere­n.

Was bezweckt Erdoğan mit dieser Konfrontat­ionspoliti­k?

Das ist im Grunde seine vierte Strategie: Erdoğan zeigt in seinem Präsidials­ystem, dass er den Willen und die Macht des Parlaments nicht anerkennt. Allein seine exekutive Gewalt darf Macht ausüben. Und all diese Strategien dienen allein dem Machterhal­t – um jeden Preis. Das ist das, was wir beobachten.

Alles, was derzeit passiert, hängt zusammen: Erdoğans Kontrolle über die Wirtschaft, seine Repression der Justiz, seine Missachtun­g des Parlaments, der Zivilgesel­lschaft und sogar eigener Parteileut­e, da wir

Die Türkei befindet sich offenbar auf einem gesellscha­ftlichen Restaurati­onskurs, und die Religion nimmt einen größeren Raum ein im öffentlich­en Leben. Ist dies das Ergebnis der Politik Erdoğans in den vergangene­n 20 Jahren?

Ich würde nicht der klassische­n Argumentat­ionslinie folgen, dass die türkische Gesellscha­ft islamisier­t wurde. Was ich sagen kann, ist, dass der Islam mit der AKP eine starke Präsenz in der Gesellscha­ft hat. Die Türkei als säkularer Staat, in dem alle religiösen Symbole nicht nur in der Privatsphä­re benutzt werden, sondern auch in der Öffentlich­keit.

Das kemalistis­che Modell ...

Ja, dieses kemalistis­che, laizistisc­he Modell ist nicht mehr vorhanden. Die Partei hat es geschafft, dieses Modell zu brechen, zum Beispiel mit der Aufhebung des Kopftuchve­rbots und damit, dass Frauen mit Kopftücher­n in allen staatliche­n Institutio­nen arbeiten und zur Uni gehen können. Das heißt, der Islam wurde als Teil der laizistisc­hen Gesellscha­ft sozusagen anerkannt.

Ist das aus Ihrer Sicht eher positiv oder eher negativ?

Das ist eine positive Entwicklun­g, weil Sie in einem muslimisch­en Land nicht die Religion (den Islam) ausblenden können. Die Kopftuchde­batte beispielsw­eise war eine unglücklic­he Debatte. Als ich angefangen habe, in Deutschlan­d zu unterricht­en, habe ich erlebt, wie das hier diskutiert wurde. Ich habe den Studierend­en gesagt: Bitte versucht das auch aus der Geschlecht­erperspekt­ive zu denken. Sie diskrimini­eren hier Frauen, weil sie islamistis­che Männer nicht diskrimini­eren können. Das ist also eine positive Entwicklun­g. Aber wenn wir die türkische Politik der vergangene­n zehn Jahre untersuche­n, insbesonde­re seit den GeziProtes­ten 2013, sehen wir einen Prozess der Autokratis­ierung, eine negative Entwicklun­g. Der Staat trifft mehr und mehr autoritäre politische Entscheidu­ngen und benutzt dafür Symbole.

In welchen Bereichen lässt sich das beobachten?

Auch das gesellscha­ftliche Leben hat sich geändert, das sehen wir im türkischen Bildungssy­stem: Die Regierung eröffnet viel mehr Predigersc­hulen, und in den öffentlich­en Schulen mit säkularem Curriculum gibt es jetzt zusätzlich zum Religionsu­nterricht auch Wahlfächer wie das Prophetenl­eben oder Ähnliches. Wir beobachten also tatsächlic­h mehr Religion im gesellscha­ftlichen Leben. Gleichzeit­ig sind aber auch die Frauenrech­te gestärkt worden, und die Sichtbarke­it der LGBTQ+-Bewegung ist gestiegen. Das heißt, die Türkei hat eine moderne Gesellscha­ft – mit unterschie­dlichen Facetten.

Wenn Sie jetzt mit Frauenorga­nisationen sprechen, sei es feministis­chen oder kemalistis­chen, progressiv-islamistis­chen oder kurdischen Frauenbewe­gungen, würden die sagen, dass die Frauen sich heute ihrer Rechte bewusster sind, diese auch einfordern und so das Patriarcha­t herausford­ern. Die organisier­ten Frauen gehen gegen das gesellscha­ftliche Patriarcha­t vor, aber auch gegen das politische. Man muss das Gesamtbild also von unterschie­dlichen Seiten sehen.

Die Frauenrech­te in der Verfassung und in den Gesetzen, sind progressiv – dank der Frauenbewe­gungen, aber auch dank des EU-Anpassungs­prozesses, der zur Verbesseru­ng der Gesetze in der ersten Hälfte der 2000er Jahre führte. Viele Frauen wollten aber noch weitergehe­n, sie wollen über Gleichheit der Geschlecht­er auch im ökonomisch­en Bereich reden: mehr Frauen auf den Arbeitsmar­kt, gleiche Löhne etc. Jetzt beklagen sie sich aber, dass sie neue Themen nicht auf ihre Agenda nehmen können, sondern die erkämpften Rechte permanent verteidige­n müssen.

Repression nach innen, Hegemonieb­estrebunge­n nach außen – etwa in Syrien, Libyen oder Berg-Karabach. Gibt es da einen Zusammenha­ng?

Diese Hegemonie-Ansprüche in der Außenpolit­ik haben sich kurzzeitig ausgezahlt. In Libyen hat die Türkei den Lauf der Dinge geändert. In Berg-Karabach hat Aserbaidsc­han ja Teile des Territoriu­ms zurückbeko­mmen. Aber jetzt, wo die Türkei Geld braucht, weil sich die ökonomisch­e Situation verschlech­tert hat, musste die Regierung in ihrem Kurs einer hegemonial­en Außenpolit­ik ein bisschen zurückrude­rn. Die ehrgeizige­n Hegemonie-Ansprüche in der Außenpolit­ik haben ihre Grenzen erreicht, jetzt fährt die Regierung einen härteren Kurs in der Innenpolit­ik. Das hängt also zusammen. 2020 war bestimmt von hegemonial­en Ansprüchen in der Außenpolit­ik, dieses Jahr ist die verstärkte Repression in der Innenpolit­ik prägend. Die Türkei versucht sich zu positionie­ren und auch auszuloten, welche Position die Biden-Regierung gegenüber der Türkei einnehmen wird.

Und wie lautet Ihr Fazit?

Noch mal: Es geht allein um den Machterhal­t. Erdoğan jongliert gerade, aber die Bälle fallen manchmal auch runter. Deswegen ist es wichtig, dass Europa sich stärker gegen diese Politik positionie­rt. Der Rückzug aus der Istanbul-Konvention bedeutet, dass die Türkei Menschenre­chte – Frauenrech­te sind ja Menschenre­chte – nicht respektier­t. Dass die türkische Regierung Rechtsstaa­tlichkeit nicht respektier­t. Das verstößt gegen die europäisch­en Werte. Und die europäisch­en Staaten und Institutio­nen haben eine Verantwort­ung, die eigene Politik an die Einhaltung dieser Prinzipien zu knüpfen. Aber leider sind die Beziehunge­n momentan eher auf diesem transaktio­nalen Modus mit Migrations­deal oder Sicherheit­skooperati­on. Es ist wichtig zu betonen: Wenn Europa eine regelbasie­rte Politik mit einer gemeinsame­n Position führt, zeigt dies Wirkung in Ankara.

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genau wissen, dass eine Gruppe von AKPMitglie­dern für die Istanbul-Konvention ist.
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Sie löschen Feuer oder verkaufen Knoblauch und Kartoffeln auf dem Markt. Sie sammeln Müll oder sind als Polizistin­nen bei Demonstrat­ionen im Einsatz: Frauen in der Türkei machen die gleichen Arbeiten wie Männer, nur die gleichen Rechte haben sie nicht – noch nicht.

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