Zweierlei Maß beim Gedenken
80. Jahrestag des Überfalls auf Sowjetunion kein Termin im Regierungskalender
Berlin. Es waren Worte des Respekts und der Demut, die Angela Merkel in Den Haag fand. Dort nahm die deutsche Kanzlerin am Mittwoch an einer Gedenkveranstaltung zum 76. Jahrestag der Befreiung der Niederlande von der Besatzung durch das Hitler-Regime teil. Die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten müsse lebendig gehalten werden, das sei »die ewige Verantwortung Deutschlands«, mahnte die CDU-Politikerin. Es dürfe keinen Schlussstrich geben. Nichts könne die Lücken füllen, die die Toten hinterlassen haben.
Solche Worte dürften sich auch die wenigen noch lebenden Zeugen des Zweiten Weltkriegs in Russland und anderen Nachfolgestaaten
der Sowjetunion von der deutschen Regierungschefin wünschen. Am 22. Juni gäbe es für die Bundesregierung viel Anlass, an das düsterste Kapitel im Verlauf des deutschen Vernichtungsfeldzugs in Osteuropa zu erinnern. An diesem Tag ist es genau 80 Jahre her, dass die Soldaten der Wehrmacht in die Sowjetunion einfielen. Mordend und brandschatzend zogen sie durchs Land, schlachteten Männer, Frauen, Kinder und Greise zu Hunderttausenden ab. Das »Unternehmen Barbarossa« sah die gezielte Massentötung, das Verhungernlassen von mehr als einer Million Leningrader Bürger und das Hinterlassen verbrannter Erde vor. Mit 27 Millionen hatte die Sowjetunion die weitaus meisten Toten im Zweiten Weltkrieg zu beklagen, mehr als die Hälfte waren Zivilisten.
Doch wie die Bundesregierung jetzt auf Anfrage der Linke-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen mitteilte, wird es in der BRD keine staatliche Gedenkveranstaltung aus Anlass des Überfalls auf die Sowjetunion vor 80 Jahren geben. Kein Kabinettsmitglied wird zu einem ehemaligen Kriegsschauplatz auf deren Territorium reisen. Nicht einmal eine offizielle Erklärung ist geplant. Man finanziere bereits den Betrieb des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst, schreibt Verteidigungsstaatssekretär Thomas Silberhorn an Dağdelen. Das kommentiert sich mit einem einzigen Wort: beschämend.
Die Bundesregierung will den 80. Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands auf die Sowjetunion »übersehen«. Auf Anfrage der Linken hebt sie hervor, sie finanziere das Deutsch-Russische Museum in Berlin. Das hält sie für ausreichend.
Kann ein Museum politisches Handeln ersetzen? Selbst beim größten Bemühen – kaum. Und doch weist die Bundesregierung dem in Berlin-Karlshorst gelegenen Deutsch-Russischen Museum allzu gern diese Aufgabe zu. Nachdem sich Berlin und Moskau 1990 über den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland geeinigt hatten, vereinbarten beide Seiten den Aufbau dieses Museums. Es soll an den beispiellosen Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Völker der Sowjetunion erinnern. Seit 1995 wurden in dem Gebäude, in dem Hitlers Generäle am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation des Nazireiches unterzeichneten, Dauer- und Sonderausstellungen gezeigt, regelmäßig fanden wissenschaftliche qagungen und Filmreihen ein.
Am 8. Mai wird es dort den traditionellen »qoast auf den Frieden« geben. Zudem wird ein Podcast mit Erinnerungen an den Kapitulationsakt veröffentlicht. Zugleich aber bereiten die Museumsmitarbeiter gemeinsam mit Kollegen anderer Gedenkstätten eine neue Sonderausstellung vor. Sie befasst sich mit dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion, der sich am 22. Juni zum 80. Mal jährt. Dazu plant man gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sowie dem Internationalen Bildungsund Begegnungszentrum Minsk einen – wie es heißt – »repräsentativen Gedenkakt in Minsk mit virtueller Beteiligung aus Deutschland«.
Derartige Aktivitäten auch anderer Gedenkstätten nutzt die Bundesregierung nun als Ausrede dafür, dass sie selbst keinerlei Gedenkakt am 22. Juni plant. In seiner Antwort auf eine Anfrage der Linke-Bundestagsabgeordneten Sevim Dağdelen betont qhomas Silberhorn (CSU) zwar, die Erinnerung an den Angriff auf die Sowjetunion 1941 nehme »in der historisch-politischen Bildung und im mahnenden Gedenken an den rasseideologischen Vernichtungskrieg im Osten einen bedeutenden Platz« ein. Einen Beleg dafür bleibt der Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium jedoch schuldig.
Die Vizechefin der Linksfraktion hatte die Regierung angefragt, was sie selbst zum historischen Datum plane. Die Antwort liegt »nd« exklusiv vor und sie zeigt: Man drückt sich vor dem qhema und nimmt Deutschlands
Verantwortung vor Geschichte und Zukunft Europas nicht wahr. Besonders armselig ist, dass Silberhorn hervorhebt, das Deutsch-Russische Museum werde »zu 100 Prozent durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien« gefördert.
Vor ein paar Wochen bereits hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) auf Anfrage der Linksfraktion klargemacht, dass auch das Parlament keine Sondersitzung oder Ähnliches plane. Nun teilt die
Bundesregierung mit, man werde »im Inland keine Veranstaltungen im Sinne der Fragestellung« durchführen. Weder Kanzlerin Angela Merkel noch ihre Kabinettskollegen planten eine qeilnahme an Veranstaltungen im Ausland. Das Auswärtige Amt fördere aber eine Veranstaltung eines deutsch-russischen Jugendorchesters sowie eine kleine Konferenz in Belarus.
Sevim Dağdelen, die Obfrau ihrer Fraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages ist, findet das empörend. Wie bereits bei anderen Anlässen zuvor lasse die Bundesregierung auch beim 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion »keinerlei Willen« erkennen, »in angemessener Weise an den faschistischen Raub- und Vernichtungskrieg zu erinnern und der Millionen Opfer zu gedenken«, kritisierte sie gegenüber »nd«.
Nun würde es ja auch Sinn machen, wenn sich die Bundeswehr im Rahmen ihrer problematischen qraditionspflege des qhemas annähme. Dağdelen fragte also weiter, ob es Veranstaltungen in Liegenschaften der und durch die Bundeswehr geben wird. Auch hier lautete die Antwort: nein. Nicht einmal die Militärattachés in Moskau, Minsk, Kiew, Chisinau, Vilnius, qallinn oder Riga haben bislang Weisungen in dieser Richtung erhalten. Ob sie, falls eingeladen, an Gedenkveranstaltungen in Staaten der einstigen Sowjetunion teilnehmen werden? Die Regierung will oder kann auch darauf nicht antworten.
Die Linke-Politikerin findet, die Bundesregierung offenbare »eine gefährliche Geschichtsvergessenheit«, ihr Verhalten sei »skandalös«. »Die Hinterbliebenen müssen so weiter auf ein echtes Zeichen der Versöhnung warten.« »Der Jahrestag des Überfalls sollte Anlass sein für eine neue Friedens- und Entspannungspolitik gegenüber Russland und ein Ende der Konfrontation«, mahnt sie.
»Die Regierung offenbart hier eine gefährliche Geschichtsvergessenheit. Die Hinterbliebenen müssen so weiter auf ein echtes Zeichen der Versöhnung warten.« Sevim Dağdelen Vizechefin der Linksfraktion