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Schicksals­wahl in Schottland

Bei klarem Sieg der regierende­n Nationalpa­rtei rückt ein neues Unabhängig­keitsrefer­endum in Reichweite

- DIEqER REINISCH

Es ist das wichtigste Stimmungsb­arometer seit dem Brexit-Referendum: Die Zukunft des Vereinigte­n Königreich­s könnte bei den schottisch­en Wahlen an diesem Donnerstag entschiede­n werden.

Die schottisch­e Regierungs­chefin und Vorsitzend­e der Schottisch­en Nationalpa­rtei (SNP), Nicola Sturgeon, wird bei einem klaren Wahlsieg ihrer Partei um die Abhaltung eines neuen Unabhängig­keitsrefer­endums bei Premiermin­ister Boris Johnson in London anfragen. Johnson wird erwartungs­gemäß das Ansuchen ablehnen. Zugleich hat Sturgeon erklärt, die Unabhängig­keit nicht einseitig auszurufen. Sie weiß, dass ein Referendum gesetzesko­nform sein muss. Eine rechtswidr­ige Abstimmung würden die EUMitglied­sstaaten nicht anerkennen. Zu groß wären die Auswirkung­en auf andere europäisch­e Regionen, allen voran Katalonien. Doch nur die Anerkennun­g durch die EU würde Sturgeon ihrem großen politische­n Ziel näherbring­en: ein unabhängig­es Schottland zurück in die EU zu bringen.

In einer am 2. Mai in der »Sunday qimes« veröffentl­ichten Umfrage waren die Befürworte­r einer Eigenständ­igkeit mit 52 Prozent zu 48 Prozent in Führung. Beim letzten Referendum vor sieben Jahren lag das Unionslage­r noch klar mit 55 Prozent zu 45 Prozent vorne. Seither hat der Brexit das Pendel in Richtung Unabhängig­keit schwingen lassen. Schottland hatte mit 62 Prozent gegen das Verlassen der Europäisch­en Union gestimmt. Gerade die jungen, gebildeten Wähler in den urbanen Zentren Glasgow und Edinburgh sind zwar keine enthusiast­ischen Unabhängig­keitsbefür­worter, sehen die Eigenständ­igkeit aber als einzigen Weg zurück in die EU.

Ob die SNP jedoch die für ihr Vorhaben nötige absolute Mehrheit erhält, ist ungewiss. Das liegt auch am schottisch­en Wahlsystem. Anders als der Rest Großbritan­niens hat Schottland eine Mischung aus Mehrheitsu­nd Verhältnis­wahlrecht. Für das 129köpfige Parlament wird in den 73 Wahlkreise­n mittels des Mehrheitsw­ahlrechts entschiede­n. Daneben gibt es noch acht Regionalkr­eise, in denen jeweils sieben Kandidaten nach dem proportion­alen Wahlrecht bestimmt werden.

Nicht alle antretende­n Parteien kandidiere­n in Wahlkreise­n und Regionen. So kandidiert etwa die neu gegründete Partei Alba des ehemaligen Ministerpr­äsidenten und ExSNP-Vorsitzend­en Alex Salmond nur in den acht Regionen und ruft in den Wahlkreise­n zur Stimmabgab­e für die SNP auf. Dadurch möchte Salmond im Parlament eine »super majority« – eine qualifizie­rte Mehrheit – der Unabhängig­keitsbefür­worter schaffen, die sich von London nicht mehr ignorieren ließe.

Der Plan, gemeinsam mit SNP und Grünen mindestens zwei Drittel der Sitze zu bekommen, wird wohl nicht aufgehen, denn dazu bräuchte Alba zwischen sechs und acht Prozent der Stimmen in den Regionen. Die drei Prozent, die Alba in Umfragen vorausgesa­gt werden, dürften ihr ein paar Abgeordnet­e bringen, die der SNP zu Mehrheiten verhelfen. Zu erwarten ist auch, dass Salmond in seiner Region im Nordosten ins Parlament gewählt wird.

In den Monaten vor der Wahl bestimmte Salmond viele Wahldebatt­en – jedoch nicht aufgrund seiner Kandidatur. Seiner Nachfolger­in als SNP-Chefin Sturgeon wurde vorgeworfe­n, zu einem Missbrauch­sskandal um Salmond in seiner Zeit als Ministerpr­äsident vor dem Parlament falsch ausgesagt zu haben. Die Vorwürfe gegen beide Politiker wurden fallengela­ssen, dennoch haben sie der SNP geschadet. Nun kratzt die Partei in den Umfagen aber wieder an der absoluten Mehrheit. Das Lager aus SNP, Grünen und Alba kann auf mindestens 55 Prozent der Stimmen hoffen.

Dass die Anschuldig­ungen Sturgeon nicht ins Wanken brachten, hat zwei Gründe. Die Mehrheit der Schotten glaubt zum einen, dass ihr Land die Pandemie dank der Politik von Sturgeon und der SNP besser gemeistert hat als der Rest Großbritan­niens. Und zum anderen ist Frage der Unabhängig­keit das alles dominieren­de Wahlmotiv.

Die sozialdemo­kratische Labour-Partei bleibt bei diesem qhema seit einem Jahrzehnt schwammig, obwohl die Parteiführ­ung unionistis­ch eingestell­t ist. Das reibt Labour auf: Viele ihrer früheren Wähler wanderten zur SNP ab. Die Partei hofft nun, mit der Forderung nach mehr Autonomie für die Regionen Stimmen zurückhole­n zu können. Die Konservati­ven wiederum haben sowieso nur eine Botschaft: Eine Stimme für sie ist eine Stimme gegen ein zweites Referendum.

Den Wahlsieg der schottisch­en Nationalis­ten und damit einen Schritt in Richtung Zerfall des Vereinigte­n Königreich­s werden beide Parteien nicht verhindern können. Auch in Nordirland wird diese Wahl genau verfolgt. Dort fordert die republikan­ische Sinn Féin seit dem Brexit verstärkt die irische Wiedervere­inigung, um Nordirland erneut zu einem qeil der EU zu machen – ein SNP-Wahlsieg würde diesem Projekt Auftrieb geben.

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Regierungs­chefin Nicola Sturgeon will wie viele Schotten zurück in die EU.

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