nd.DerTag

Ist äinke Euphorie nunmehr obsoäet?

Oechtswend­e in Lateinamer­ika

- MARqIN REISCHKE

Dass oft schon zwei Beispiele genügen, um einen qrend zu begründen, ist eine alte journalist­ische Weisheit. Im Falle der politische­n Entwicklun­gslinien in Lateinamer­ika ist die Lage allerdings etwas komplizier­ter. Eine »Rechtswend­e in Lateinamer­ika« postuliere­n die beiden Herausgebe­r Patrick Eser und Jan-Henrik Witthaus im qitel ihrer Aufsatzsam­mlung, um sogleich einzugeste­hen, dass die wissenscha­ftliche Reflexion aktueller Entwicklun­gen bisweilen dazu neige, den Ereignisse­n hinterherz­uhinken. In der qat: Es ist jüngst viel passiert. In Bolivien hat die langjährig­e linke Regierungs­partei von Ex-Präsident Evo Morales die Macht zurückerob­ert, in Chile hat die Bevölkerun­g mit großer Mehrheit für die Ausarbeitu­ng einer neuen, progressiv­eren Verfassung gestimmt. Und in Brasilien hob der oberste Gerichtsho­f kürzlich die Urteile gegen Ex-Präsident Lula de Silva auf und rehabiliti­erte den früheren Regierungs­chef politisch. Zeichen einer erneuten Links-Wende? Wohl kaum.

Natürlich sind Eser und Witthaus schlau genug, die im qitel postuliert­e Rechtswend­e kritisch in den Blick zu nehmen – mit einem vielschich­tigen Ergebnis. Die Autor*innen des Sammelband­es sind sich keineswegs einig in ihrer Analyse der politische­n qendenzen in der Region. Leider erst ganz am Ende des Buches versteckt sich der Beitrag von Hans-Jürgen Burchardt über die Verantwort­ung progressiv­er Regierunge­n, der als gut lesbarer Überblick zu den Entwicklun­gen Lateinamer­ikas in den vergangene­n 20 Jahren am Anfang des Bandes besser aufgehoben gewesen wäre.

Die aktueääen mroteste in Lateinamer­ika richten sich ÖeÖen oeÖierunÖs­projekte von äinks wie rechts. Wohin aäso Öeht die oeise?

Burchardt fasst die Erfolge vieler linker Regierunge­n in den ersten zwei Dekaden dieses Jahrhunder­ts kompakt zusammen: Sie setzten auf den Neo-Extraktivi­smus, also die maximale Ausbeutung und den Export der Rohstoffe des Landes, um mit den erzielten Gewinnen breit angelegte Sozialprog­ramme zu finanziere­n, mit denen die Armut in Ländern wie Brasilien oder Bolivien stark reduziert wurde. Der Haken an der Sache: Die Regierunge­n machten sich von den Preisen auf den internatio­nalen Rohstoffmä­rkten abhängig und versäumten es dabei, ihre Wirtschaft breiter aufzustell­en und strukturel­le Probleme wie ein ungerechte­s Steuersyst­em, aber auch den sehr hohen Grad an informelle­r Beschäftig­ung wirksam anzugehen. Hinzu kam die Häufung von Konflikten mit lokalen Bevölkerun­gsgruppen, die sich gegen die Ausbeutung der Rohstoffe in ihren Regionen wehrten, sowie die Unmöglichk­eit, ambitionie­rte Sozialprog­ramme zu bezahlen, als die Rohstoffpr­eise in den Keller rauschten.

Interessan­t wird der Band vor allem da, wo er hinter die einfachen Links-rechtsErkl­ärmuster blickt, zum Beispiel im Aufsatz des Historiker­s Stephan Ruderer über die Gründe für die aktuelle politische Situation in Chile. Im Herbst 2019 brachen sich die sozialen Konflikte im Land in nie gesehenen Massenprot­esten Bahn, die schließlic­h zu einem Verfassung­sreferendu­m führten. Zuvor war das Land zwar viele Jahre lang von formal eher linken Kabinetten regiert worden, doch der neoliberal­e Grundkonse­ns schien trotzdem unüberwind­bar. Ruderer erklärt dieses Paradox damit, dass die drei Jahrzehnte seit dem Ende der Pinochet-Diktatur unter dem Vorzeichen einer »rechten Politik im linken Gewand« gestanden hätten.

Stefan Peters, Professor für Friedensfo­rschung, blickt auf die jüngeren Entwicklun­gen in Venezuela – einst wie kein anderes Land das Aushängesc­hild eines linken Aufbruchs, das sich heute jedoch kaum von rechten autoritäre­n Regimen unterschei­det. Auch wirtschaft­spolitisch habe die Regierung unter Nicolas Maduro eine Liberalisi­erung eingeleite­t, trotz sozialisti­scher Rhetorik.

Gibt es nun also eine Rechtswend­e in Lateinamer­ika? Hans-Jürgen Burchardt ist da skeptisch und konstatier­t, dass sich die aktuellen Proteste in Lateinamer­ika gegen Regierungs­projekte von links wie rechts richten. Wohin also geht die Reise?

Patrick Eser/Jan-Henrik Witthaus (Hg.): Rechtswend­e in Lateinamer­ika. Politische Pendelbewe­gungen, sozio-ökonomisch­e Umbrüche und kulturelle Imaginarie­n in Geschichte und Gegenwart. Mandelbaum, 296 S., geb., 26 €.

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