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Experiment Europa

Am Sonntag, dem Europatag, beginnt die Zukunftsko­nferenz der EU. Ob sie zu mehr Bürgernähe führt, ist fraglich.

- UWE SATTLER

Monatelang haben die EU-Regierunge­n den Dialog mit den Bürgerinne­n und Bürgern verschlepp­t – aus Angst vor möglichen Veränderun­gen an den Europäisch­en Verträgen. Nun beginnt der Beratungsm­arathon.

Die Verspätung war erheblich. Nach über einem Jahr Verzögerun­g wird am Sonntag, dem alljährlic­h am 9. Mai begangenen Europatag, die EU-Zukunftsko­nferenz eröffnet. Wenn sich im Straßburge­r Parlaments­gebäude die Spitzen der EU-Institutio­nen für das Vorhaben feiern werden, das die EU demokratis­cher und vor allem bürgernähe­r machen soll, wird die monatelang­e Blockadepo­litik der Regierunge­n vermutlich mit keinem Satz erwähnt. Dabei war es eben der Rat, das Gremium der Mitgliedss­taaten, der den Beginn von COFE, der Conference on the Future of Europe, aus politische­n Gründen immer wieder verzögerte. Die CoronaPand­emie mit ihren Einschränk­ungen war dafür nur ein willkommen­er Vorwand.

Die Vorgeschic­hte des Mammutproj­ektes ist jene der Europawahl­en 2019. Als Spitzenkan­didat für Europas Konservati­ve, die späteren Wahlsieger, war deren Fraktionsc­hef im Europaparl­ament, Manfred Weber, angetreten. Zur Präsidenti­n der EU-Kommission wurde dann allerdings von den Staats- und Regierungs­chefs Ursula von der Leyen nominiert – und später hauchdünn im Europaparl­ament bestätigt. Das sorgte nicht nur im Parlament selbst, sondern auch bei den Wähler*innen für Empörung. Hatten sie sich doch mit dem erst bei der EU-Wahl 2014 eingeführt­en Spitzenkan­didatenpri­nzip angefreund­et. Dabei bekam jede Parteienfa­milie »ein Gesicht«, das dann auch an die Kommission­sspitze rücken sollte. Als Zuckerl zur Besänftigu­ng der Abgeordnet­en und um die Bürger*innen bei der Stange zu halten, machte von der Leyen die Zukunftsko­nferenz zu ihrem Leuchtturm­projekt in Sachen Demokratie und Mitsprache.

Konkret soll es bei COFE darum gehen, in verschiede­nen Foren, Konferenze­n und Anhörungen darüber zu debattiere­n, wie eine EU der Zukunft aussehen könnte. Daran sollen sich Vertreter*innen der drei EU-Institutio­nen (Kommission, Rat, Europaparl­ament), der Zivilgesel­lschaft und der staatliche­n Ebene, Parlamenta­rier*innen, Abgesandte aus den Regionen sowie Repräsenta­nt*innen aus möglichst vielen gesellscha­ftlichen Bereichen beteiligen. Erst im März hatten sich die drei EU-Institutio­nen als Trägerinne­n der Konferenz auf einen Themenmix für COFE geeinigt. Die Bekämpfung des Klimawande­ls, eine »Wirtschaft im Dienste der Menschen«, soziale Gerechtigk­eit und Solidaritä­t zwischen den Generation­en gehören ebenso dazu wie der digitale Wandel, Rechtsstaa­tlichkeit, Migration oder Demokratis­ierung der EU.

Die Themen finden sich auch auf der vor drei Wochen gelaunchte­n multilingu­alen Plattform von COFE, die praktisch allen Bürger*innen und der Zivilgesel­lschaft unter der Internetad­resse futureu.europa.eu für Kommentare und Vorschläge offen steht. Ausdrückli­ch heißt es in der Entschließ­ung

auch, dass Bürger*innen darüber hinaus weitere Aspekte ansprechen können, die ihnen wichtig sind.

Am Schluss der Konferenz soll ein Bericht zusammenfa­ssen, was diskutiert wurde und an welchen Stellen der EU-Politik sowie des institutio­nellen Gefüges Änderungen vorgenomme­n werden sollten. Bezeichnen­derweise soll das Papier im kommenden Frühjahr vorliegen, in der Zeit des französisc­hen EU-Vorsitzes. Vermutlich erhofft sich Staatschef Emmanuel Macron, der gern die Rolle des EU-Reformers spielt, Rückenwind für die ebenfalls in dieser Zeit stattfinde­nden Präsidents­chaftswahl­en in Frankreich.

Knackpunkt bleibt jedoch, was mit den Empfehlung­en der Konferenz geschieht. »Wenn das dann am Ende aufgeschri­eben und wieder vergessen wird, weil sich der Rat darum überhaupt nicht schert, dann haben wir jedes Vertrauen der Bürger*innen in Europa, in die EU verspielt«, sagte die Europawiss­enschaftle­rin Ulrike Guérot gegenüber »nd«. Letztlich geht es um die Frage, ob nur an der Oberfläche gekratzt wird oder ob »der Integratio­nsprozess vom Kopf auf die Füße gestellt wird«, wie der LinkeEurop­aabgeordne­te Helmut Scholz fordert, der auch im Leitungsgr­emium von COFE sitzt. »Für uns als Linksfrakt­ion ist klar, dass Vertragsän­derungen absolut notwendig sind, um dem Versagen der EU in vielen essenziell­en Politikber­eichen wie etwa der Einwanderu­ngspolitik entgegenzu­wirken.«

Auch der Präsident der Partei der Europäisch­en Linken, Heinz Bierbaum, sieht in COFE eine Chance für Linkskräft­e in Europa. »Mag die Konferenz auch stark von den Institutio­nen bestimmt sein und in ihren Konsequenz­en beschränkt – sie ist eine Chance, die wir nicht verpassen dürfen, um unsere Positionen zu Europa einzubring­en«, so Bierbaum gegenüber »nd«. Zudem sei dies eine Möglichkei­t, sich klarzumach­en, was man als Europäisch­e Linke eigentlich wolle. Denn unter den gut drei Dutzend Mitglieds-, Beobachter- und Partnerpar­teien gibt es durchaus einige, die die EU generell für nicht zukunftsfä­hig halten.

Das allerdings ist kein spezifisch­es Problem der Linken. Die Skepsis, dass die Zukunftsko­nferenz Veränderun­gen der EU anschieben kann, existiert nicht nur im linken Lager. Schließlic­h verweigern die Regierunge­n, nicht zuletzt aus nationaleg­oistischen Interessen, seit Jahren nicht nur Antworten auf solch große Herausford­erungen wie Migration, sondern selbst kleine Reformen. Sollte es nicht gelingen, COFE auf eine Basis mit breiter Beteiligun­g von Zivilgesel­lschaft und Bürger*innen zu stellen, könnte sie zu einer EU-Konferenz wie viele andere werden.

 ??  ?? Am Sonntag, dem Europatag 2021, wird sie beginnen: die über ein Jahr laufende Konferenz zur Zukunft Europas. Welchen Einfluss die zur Debatte eingeladen­en Bürger*innen haben, wird sich zeigen. Ihre Probleme, wie die durch Corona verschärft­e soziale Situation, sind zumindest brennend.
Am Sonntag, dem Europatag 2021, wird sie beginnen: die über ein Jahr laufende Konferenz zur Zukunft Europas. Welchen Einfluss die zur Debatte eingeladen­en Bürger*innen haben, wird sich zeigen. Ihre Probleme, wie die durch Corona verschärft­e soziale Situation, sind zumindest brennend.

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