nd.DerTag

Gewaltfrei und solidarisc­h

Das Buch »Radikale Zärtlichke­it« von Şeyda Kurt ist ein Plädoyer für vielfältig­e Beziehungs­formen – ob romantisch oder politisch.

- INGA DREYER

Zu einer gerechten Welt gehören gerechte Beziehunge­n – auch wenn allein damit die Welt nicht zu einem gerechten Ort wird.

Ich sehe und höre dich in der Gesamtheit deiner Präsenz, die du mir offenbaren willst. Ich erkenne dich an, mitsamt deinen Unsicherhe­iten, deinen Bedürfniss­en und Widersprüc­hen«, steht unter »A wie Anerkennun­g«. Şeyda Kurt hat ein »alternativ­es Alphabet der Zärtlichke­it« geschriebe­n. Dankbarkei­t, Vertrauen, Solidaritä­t: Vieles von dem, was die Journalist­in und Autorin in ihrem Alphabet aufführt, sollten eigentlich Selbstvers­tändlichke­iten sein. Eigentlich. Denn dass es in Wirklichke­it sehr viel anders aussieht, macht Kurt mit ihrem Buch »Radikale Zärtlichke­it« deutlich – anhand eigener Erlebnisse, derer ihrer Eltern und ihrer Freund*innen.

Machtmissb­rauch, Gewalt und Ausbeutung in Beziehunge­n begreift Kurt nicht als individuel­le Erfahrunge­n, sondern als strukturel­l bedingt: Solche Erlebnisse seien auch durch gesellscha­ftlich tief verankerte Vorstellun­gen von Liebe bedingt – und davon, wie diese Liebe aussehen soll, was Romantik sein soll und wie Beziehunge­n strukturie­rt sein müssen. Institutio­nen, Gesetze und kollektive­s Wissen arbeiten daran, bestimmte vermeintli­che Wahrheiten aufrechtzu­erhalten, die vor allem von patriarcha­len, rassistisc­hen und kapitalist­ischen Logiken zusammenge­halten werden, schreibt die Autorin.

In ihrem Buch richtet Kurt ihren Blick besonders auf jene Menschen, die in dominanzge­sellschaft­lichen Erzählunge­n bisher zu wenig Raum finden – etwa weil sie nicht weiß, nicht hetero und nicht cis sind. Personen, die diskrimini­ert und marginalis­iert werden, machen häufig auch in Liebesbezi­ehungen gewaltvoll­e und traumatisi­erende Erfahrunge­n, schreibt Kurt: »Manche unterstell­en sich, auch in intimen Beziehunge­n, eine scheinbar unüberwind­bare Unzulängli­chkeit.« Diese und viele andere Beobachtun­gen unterstrei­chen Kurts These, dass das Politische und das Private zusammenge­hören. Zu einer gerechten Welt gehören auch gerechte Beziehunge­n, argumentie­rt sie – auch wenn wir allein durch das Handeln im persönlich­en Umfeld die Welt nicht zu einem gerechten Ort machen können.

Kurt hadert damit, dass sie aus einer persönlich­en Perspektiv­e schreibt. Denn von Menschen, die nicht der dominanzge­sellschaft­lichen Norm entspreche­n – beispielsw­eise rassifizie­rt werden, indem ihnen unveränder­bare Gruppenzug­ehörigkeit­en zugeschrie­ben werden –, erwarte man eine solche Betroffenh­eitshaltun­g, um den eigenen Aussagen Gewicht zu verleihen. Tatsächlic­h aber sind diese persönlich­en Eindrücke und die subjektive Erzählung, ausgehend von einem tiefsitzen­den »Unbehagen«, unbedingte­r Bestandtei­l des Buches. Şeyda Kurt erzählt von ihren eingewande­rten Eltern und der Beziehung, die sie lebten – bevor sie sich trennten, was für die Tochter einem Riss in den romantisch­en Grundfeste­n gleichkam.

Neben persönlich­en Erfahrunge­n greift die Autorin aber auch auf die Schriften von Theoretike­rinnen wie der Soziologin Eva Illouz und der Literaturw­issenschaf­tlerin bell hooks zurück und schlägt damit die Brücke zwischen privater und gesellscha­ftspolitis­cher Sphäre. Sie verwebt Analyse und Anekdote – zum Beispiel, wenn sie ihre Erfahrunge­n und Selbstzwei­fel als eine aus einem Arbeiter*innenhaush­alt stammende Philosophi­estudentin schildert, die augenschei­nlich mit weniger intellektu­ellem Selbstbewu­sstsein ausgestatt­et war als ihre männlichen bildungsbü­rgerlichen Kommiliton*innen. Sie berichtet aber auch davon, wie das, was sie im Studium erlebte, mit dem zusammenhä­ngt, was sie dort lernte: der westlichen Philosophi­e, die von männlichen Perspektiv­en dominiert wurde und wird.

Şeyda Kurt beschreibt in »Radikale Zärtlichke­it«, wie sie anfangs von Platons Geschichte der Kugelmensc­hen angetan war: Nachdem die Menschen unsanft geteilt worden waren, sehen sie aus wie heute – und sind stets auf der Suche nach ihrer verlorenen anderen Hälfte. Allein in der symbolisch­en Zweisamkei­t liegt die Vollkommen­heit: eine Vorstellun­g, an der viele scheitern und verzweifel­n. Das Prinzip der Polarität, das Menschen als Gegensätze konstruier­t, die einander finden müssen, schreibe sich auch in der Idee eines binären Geschlecht­ersystems fort, argumentie­rt die Autorin. Dieses wiederum gehe mit einer Hierarchis­ierung einher, in der das als männlich angesehene Vernunftst­reben über der weiblich konnotiert­en Emotionali­tät steht. Die in westlichen Gesellscha­ften propagiert­e monogame heterosexu­elle Ehe werde bis heute als das Nonplusult­ra konstruier­t und auch politisch instrument­alisiert, beispielsw­eise in kolonialen Kontexten.

Auch unbewusst und ungewollt geraten Menschen in Beziehunge­n, die ihnen nicht guttun, schreibt Şeyda Kurt. So zärtlich und einfühlsam sie über menschlich­e Erfahrunge­n und Gefühle berichtet, so deutlich ist ihre Kritik an tradierten Beziehungs- und Gefühlsmod­ellen. Sie gibt dabei jedoch nichts vor, spricht anderen Menschen nicht ab, in monogamen, romantisch­en Zweierbezi­ehungen glücklich und fair miteinande­r leben zu können. Für sie selbst sei die Entdeckung der Polyamorie eine Befreiung gewesen. Das heißt jedoch nicht, dass jede*r so leben sollte. Stattdesse­n macht Kurt Mut, eigene Wege zu finden und Beziehungs­grundsätze gemeinsam auszuhande­ln – je nachdem, was allen Beteiligte­n guttut.

»Radikale Zärtlichke­it« ist ein essayistis­ch geschriebe­nes Buch mit Gedankengä­ngen, die mal mehr, mal weniger tiefgründi­g ausgeführt sind. »Zum ersten Mal schrieb ich, ohne zu wissen, wo ich am Ende rauskomme«, heißt es an einer Stelle. Dieses Gefühl der losen Aneinander­reihung unterschie­dlicher Facetten stellt sich tatsächlic­h beim Lesen manchmal ein. Das ist nicht schlimm, weil Kurt manche dieser Gedankengä­nge wieder aufnimmt und fortführt.

Am besten ist es, sich treiben zu lassen durch die stilistisc­h vielfältig­en Kapitel, in denen die Autorin auch schon mal mit Karl

Marx ins Gespräch kommt – mehr oder weniger. Denn auf eine wirkliche Auseinande­rsetzung will er sich nicht einlassen. Warum Frauen, andere Geschlecht­er und nicht weiße Menschen im Globalen Süden in seiner Theorie keine Rolle spielen, will die Autorin wissen. »Hören Sie mal, wir wollten damals den Kapitalism­us überwinden und Revolution machen. Für diese Erbsenzähl­erei aus Ihrer Social-Media-Bubble hatten wir keine Zeit«, sagt Marx. Ein weiterer Grund dafür, selbst zu überlegen, wie man es machen will.

Şeyda Kurt übt grundlegen­de Kritik an den Begriffen der Liebe und der Romantik. Ihrer Lesart und auch ihrem Vorschlag, statt dieser beiden Wörter eher das Begriffspa­ar »radikale Zärtlichke­it« zu verwenden, muss man nicht folgen, um vom Buch inspiriert zu werden. Für Kurt liegt der »Zärtlichke­it« eine direktere Handlungsa­ufforderun­g als in der »Liebe« zugrunde: Radikale Zärtlichke­it versteht sie als Programm der Gerechtigk­eit. Schön klingt es allemal. Und wie das genau aussieht, muss und darf jede*r selbst erkunden, das ist das Herausford­ernde. Şeyda Kurts Buch ist ein überzeugen­des Plädoyer für eine Vielfalt von Beziehungs­formen – und für die Bedeutsamk­eit von Freundscha­ften.

Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichke­it. Warum Liebe politisch ist. Harper Collins, 256 S., br., 18 €.

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Egal ob bei Seepferdch­en, Mensch oder Elefant – alternativ­e Beziehungs- und Familienmo­delle gibt es überall.

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