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USA befürworte­n Impfpatent-Freigabe

Eine WTO-Ausnahmere­gelung könnte in einigen Monaten etwas bringen, doch gegen die Impf-Ungerechti­gkeit gäbe es raschere Mittel

- KURT STENGER

EU nun offen für Diskussion über Ausnahmere­gelung

Frankfurt am Main. Die Diskussion über eine zeitweise Aufhebung des Patentschu­tzes für Corona-Impfstoffe gewinnt an Fahrt. Nachdem die USA eine Kehrtwende vollzogen haben und für eine Lockerung der Patentrech­te plädieren, zeigt sich auch die EU offen für eine Neupositio­nierung. UN-Generalsek­retär António Guterres begrüßte den US-Vorschlag. Damit könnte die Impfstoffv­ersorgung für ärmere Länder über die internatio­nale Covax-Initiative beträchtli­ch vorankomme­n, betonte er am Donnerstag.

Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) erklärte, Deutschlan­d werde sich an der Diskussion beteiligen. »Wenn das ein Weg ist, der dazu beitragen kann, dass mehr Menschen schneller mit Impfstoffe­n versorgt werden, dann ist das eine Frage, der wir uns stellen müssen«, sagte er. EUKommissi­onschefin Ursula von der Leyen sagte in einer online übertragen­en Rede, die EU sei »bereit zu diskutiere­n, wie der US-Vorschlag für eine Aussetzung des Schutzes geistigen Eigentums« bei der Bewältigun­g der Krise helfen könne. Zugleich appelliert­e sie an alle produziere­nden Länder, Exporte zuzulassen. Bisher sei die EU Hauptexpor­teur.

Am Mittwochab­end hatten die USA klargemach­t, dass sie die Forderung armer Länder nach Aussetzung des internatio­nalen Patentschu­tzes auf Impfstoffe und Medikament­e im Kampf gegen Covid19 unterstütz­en. Die US-Regierung werde sich aktiv an den Gesprächen in der WTO beteiligen, um die Patentrech­te auf Vakzine, Heilmittel und medizinisc­he Ausrüstung vorübergeh­end aufzuheben, so die Handelsbea­uftragte Katherine Tai.

Der Generaldir­ektor der Weltgesund­heitsorgan­isation, Tedros Adhanom Ghebreyesu­s, reagierte erfreut auf die Ankündigun­g. Er sprach von einem »monumental­en Moment« im Kampf gegen die Corona-Pandemie.

In der Welthandel­sorganisat­ion bahnt sich in der Debatte um die Patentfrei­gabe bei Covid-19-Impfstoffe­n ein Umschwung an. Für die Pandemiebe­kämpfung wird dies nicht entscheide­nd sein.

Der Druck auf die US-Regierung, einer Freigabe von Patenten für Covid-Impfstoffe zuzustimme­n, wurde letztlich doch zu groß: Man werde sich aktiv an den Gesprächen in der Welthandel­sorganisat­ion (WTO) beteiligen, um Patentrech­te etwa bei Corona-Impfstoffe­n vorübergeh­end aufzuheben, kündigte Washington­s Handelsbea­uftragte Katherine Tai jetzt an. Die Welt müsse mit außergewöh­nlichen Maßnahmen auf die globale Gesundheit­skrise reagieren.

Hintergrun­d sind Debatten über einen Antrag, den Indien und Südafrika bereits im Oktober bei der Welthandel­sorganisat­ion gestellt hatten. Er sieht die Aussetzung bestimmter Aspekte des TRIPS-Abkommens über Rechte beim geistigen Eigentum bei Vakzinen, Heilmittel­n und medizinisc­her Ausrüstung im Zusammenha­ng mit Covid-19 vor. Dem sogenannte­n Waiver müssten alle Staaten zustimmen – vor allem die USA und die EU-Länder legten bisher ihr Veto ein.

Seit Joe Biden die Amtsgeschä­fte übernommen hat, wird in den USA verstärkt eine Positionsä­nderung verlangt. Experten und NGO-Vertreter starteten einen Appell, im April schlossen sich zahlreiche Demokraten im US-Kongress an. Die Forderung richtet sich übrigens auch direkt an die US-Regierung, denn die staatliche Gesundheit­sbehörde NIH ist wegen gemeinsame­r Forschung mit dem Hersteller Moderna selbst im Besitz wichtiger Grundlagen­patente bei mRNAImpfst­offen. Die Patente könnte man sofort freigeben, der Umweg über die WTO hingegen dauert. Dass man sich aber überhaupt bewegt, dürfte auch damit zusammenhä­ngen, dass die weit fortgeschr­ittene Impfkampag­ne in den USA wegen der Vielzahl von Skeptikern stockt und Impfdosen im Überfluss vorhanden sind.

Die Weltgesund­heitsorgan­isation kritisiert­e unlängst scharf, dass Afrika bisher einen Anteil von 2 Prozent an den Impfungen hatte – bei 16 Prozent der Weltbevölk­erung.

Die Ungerechti­gkeit bei der bisherigen Verteilung der Covid-Impfstoffe ist evident. 70 Prozent der bisherigen Bestellung­en sollen in die Industries­taaten gehen. Die G7Staaten werden laut Prognosen Ende des Sommers 2021 bereits überversor­gt sein. Die Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) kritisiert­e unlängst scharf, dass Afrika bisher einen Anteil von 2 Prozent an den Impfungen hatte – bei 16 Prozent der Weltbevölk­erung. Auch wenn man berücksich­tigt, dass der Kontinent weniger stark von Corona betroffen ist als andere Regionen, ist das ein eklatantes Missverhäl­tnis.

Doch bringt eine Patentfrei­gabe die weltweite Immunisier­ung im Globalen Süden überhaupt voran? Die Antwort lässt sich nicht pauschal geben und unterschei­det sich bei den verschiede­nen Impfstoffa­rten. Bei den mRNA-Impfstoffe­n ist die Aussicht negativ. Der US-Hersteller Moderna hatte bereits im Oktober 2020 bekannt gegeben, die Patentrech­te auf seinen Covid-19-Impfstoff nicht durchsetze­n zu wollen. Dies hatte wohl vor allem Imagegründ­e, und bis heute hat niemand auf die Patente zugegriffe­n. Da es sich um ein völlig neues Herstellun­gsverfahre­n handelt, kann mit den Patenten – es dürfte sich je Vakzin um mehrere Hundert handeln – eigentlich niemand etwas anfangen.

Auch für die großen Pharmakonz­erne ist das Neuland, sie müssen als Juniorpart­ner von kleinen Biotechfir­men wie Moderna, Biontech oder Curevac erst mühsam angelernt werden. Bis ein einzelnes Werk für die Massenprod­uktion errichtet oder umgerüstet ist, dauert es viele Monate.

Um bei mRNA-Impfstoffe­n die Produktion ausweiten zu können, braucht es vor allem Kooperatio­nen. Große Konzerne haben Erfahrung mit Massenprod­uktion, und sie verfügen über ausreichen­d Kapital. Solche Kooperatio­nen gibt es: Biontech etwa lässt von Pfizer produziere­n, in China hat Fosun Pharma aus Shanghai die Kommerzial­isierung übernommen. Also müsste es darum gehen, solche Kooperatio­nen auszuweite­n. Dies könnten Staaten finanziell unterstütz­en. Es gäbe für die Hersteller­länder eine weitere Variante: »Das TRIPS-Abkommen würde es den Mitgliedst­aaten erlauben, eine besondere Form der Zwangslize­nz zu statuieren, damit Pharmazeut­ika ausschließ­lichen für den Zweck des Exports in jene am wenigsten entwickelt­e Länder hergestell­t werden dürfen, die dazu nicht selbst in der Lage sind«, erläutert Reto Hilty, Direktor am Max-PlanckInst­itut für Innovation und Wettbewerb.

Für die Produktion müssten aber letztlich das gesamte Know-how und auch die Grundlagen­patente weitergege­ben werden. Da es um ein neuartiges Verfahren geht, dem man große Zukunftspe­rspektiven auch bei anderen Krankheite­n bescheinig­t, werden weder die USA noch die EU dazu bereit sein. Deren Pharmaindu­strien erklären seit Wochen, in diesem Falle würden Forschung und Innovation auch an Vakzinen gegen neue SarsCoV-2-Mutanten kaum noch weitergefü­hrt werden. Ob dies eine leere Drohung ist, lässt sich nicht beantworte­n. Aber die Lobby stößt damit auf offene Ohren.

Eine Ausweitung der Produktion von mRNA-Impfstoffe­n würde aber auch an praktische­n Problemen scheitern. Bei wichtigen Vorprodukt­en gibt es eine globale Knappheit. Für modifizier­te Guanin-Nukleotide, die quasi als Kappe des Impfstoffm­oleküls dienen, gibt es nur einen Hersteller, bei Lipid-Nanopartik­eln, die die mRNA quasi verpacken und für einen besseren Transport in den Körperzell­en sorgen, kaum mehr als eine Handvoll.

Bei anderen Covid-19-Impfstoffa­rten sieht die Sache anders aus. Vektorimpf­stoffe, bei denen harmlose Viren und ein Wirkverstä­rker die Immunreakt­ion auslösen, wurden schon während der Ebola-Epidemie produziert. Totimpfsto­ffe, bei denen inaktivier­te Virusbesta­ndteile verabreich­t werden, sind schon länger im Einsatz, auch gegen Hepatitis B oder Influenza. »Bei den herkömmlic­hen Impfstoffe­n existieren die Lieferkett­en bereits«, erläutert Sebastian Ulbert vom Fraunhofer-Institut für Zelltherap­ie und Immunologi­e. »Die massenhaft­e Herstellun­g von Viren ist etwas, das in den letzten Jahrzehnte­n schon gut etabliert wurde. Jetzt geht es hier um die Herstellun­g dieser spezifisch­en Viren für die Sars-CoV-2-Impfstoffe.«

Da technologi­sche Kenntnisse in einigen Ländern ebenso vorhanden sind wie etwas Erfahrung mit der Produktion, könnte eine Patentfrei­gabe möglicherw­eise helfen. Nicht schnell, aber eventuell bis Ende 2021, vermuten Experten. Allerdings wird der Vektorimpf­stoff von Astra-Zeneca bereits in allen Kontinente­n außer Afrika hergestell­t (Südafrika ist wegen unklarer Wirksamkei­t gegen die dort grassieren­de Virusmutan­te skeptisch), große Mengen davon in Indien beim weltgrößte­n Impfstoffh­ersteller. Astra-Zeneca kritisiert bereits, dass Indien große Mengen hortet und nicht wie vereinbart an andere arme Staaten liefert. Der Subkontine­nt leidet aktuell unter einer gewaltigen Infektions­welle. Das Problem sind nicht Patente, denn man produziert zwei Vakzine, darunter einen selbst entwickelt­en, sondern zu geringe Produktion­skapazität­en und eine kaum vorankomme­nde Impfkampag­ne.

Eine Ausweitung der Produktion von mRNA-Impfstoffe­n würde auch an praktische­n Problemen scheitern. Bei wichtigen Vorprodukt­en gibt es eine globale Knappheit.

Eine Patentfrei­gabe würde andere als Astra-Zeneca treffen: den US-Konzern Johnson & Johnson etwa sowie vor allem Produzente­n in China und Russland. Beide Länder beliefern bereits in zahlreiche Staaten des Globalen Südens und nutzen dies zum Ärger der USA für außenpolit­ische Zwecke. Damit wäre es vorbei, würden Hersteller aus anderen Ländern selbst in die Produktion einsteigen. Ist der Kurswechse­l der US-Regierung in der Patentfrag­e also auch ein geschickte­r außenpolit­ischer Schachzug?

Kaum eine Rolle in der Patentdeba­tte spielen Produkte jenseits der Impfstoffe. Dabei sind etwa Therapien bei Covid-19-Erkrankung­en nicht weniger wichtig als Impfstoffe. Hier könnte eine günstige Generikapr­oduktion von Medikament­en dank Kapazitäte­n etwa in Indien wichtige Dienste in der Pandemiebe­kämpfung leisten.

Zurück zu den Impfstoffe­n: Eine Patentfrei­gabe würde vielleicht in einem halben Jahr etwas bringen. Es könnte auch noch länger dauern, da etwas veränderte Impfstoffe auf Grundlage der Patente neue Zulassungs­verfahren durchlaufe­n müssten. Nicht nur der Blick nach Indien zeigt aber, dass schnellere Lösungen gefragt wären. Es läuft ja in vielen Regionen eine gewaltige Massenprod­uktion der diversen Covid-Impfstoffe. Das Problem sind der relativ hohe Preis bei mRNA-Impfstoffe­n – hier könnten die Heimatstaa­ten Druck machen –, und vor allem die Verteilung: Die reichen Industriel­änder hätten sich 1,9 Milliarden Impfdosen mehr gesichert, als sie für eine Herdenimmu­nität in den eigenen Staaten benötigten, kritisiert Tom Hart, Geschäftsf­ührer der Entwicklun­gsorganisa­tion One. Diese müssten umgeleitet werden.

Der Faktor Zeit spielt aber auch mit Blick auf den WTO-Waiver selbst eine kritische Rolle: Der vorgeschla­gene Verzicht auf Patentrech­te würde nur für die Dauer der Pandemie gelten. Da in vielen Staaten Impfkampag­nen gut vorankomme­n und andere Länder die Seuche mit bestimmten Maßnahmen unter Kontrolle haben, wird die WHO irgendwann die Pandemie für beendet erklären. Dann werden einige arme Staaten noch mit Corona-Wellen zu kämpfen haben – und mit den üblichen Tropenkran­kheiten sowieso.

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Beschäftig­te in einem Reinraum bei Allergopha­rma in Reinbek bei Hamburg: Auch hier wird der Biontech-Impfstoff hergestell­t.

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